Kapitel 1 – Finsternis
Es war dunkel, nein, es war schwarz. Pechschwarz. Kein Lichtstrahl schaffte es bis in diese Gemäuer, wenn die Türen verschlossen waren. Die Luft stand. Sie war so dick und staubig, dass es beinahe schmerzte sie zu atmen. Und dann war da noch die Angst. Das Mädchen spürte sie in jeder Faser ihres Körpers. In der alles verzehrenden Schwärze lauerten ihre schlimmsten Albträume und warteten nur darauf sie zu holen. Monster. Dämonen. Die Ausgeburten ihrer kindlichen Fantasie hatten ihre Schlupfwinkel verlassen, sich hier in der Dunkelheit ausgebreitet. Verzweiflung nagte an ihr, brachte sie fast um den Verstand, doch sie konnte nicht weglaufen, nicht entfliehen. Sie war hier gefangen – bis ans Ende aller Tage und darüber hinaus. Weinend lag sie in einer Ecke der Kammer. Zusammengerollt wie ein Säugling hatte sie ihre dünnen Ärmchen fest um die zerbrechlichen Streichhölzer geschlungen, die ihre Beine waren. Ihr jämmerliches Schluchzen war alles, was dieses Nichts hier unten durchbrach, und das Echo dieser Wehklagen hallte von den kalten Wänden wider und prasselte niederschmetternd auf sie zurück.
Die Zelle, in der sich das Mädchen befand, war klein, vielleicht zwei Meter im Quadrat. Dicke Betonmauern umschlossen drei Seiten, während die vierte von einer massiven Stahltür ausgefüllt wurde. Diese Tür war von innen ohne Griff und bis auf eine bewegliche Klappe im Fußbereich und einen abdeckbaren Sehschlitz in Augenhöhe vollkommen glatt. Die Zelle selbst war kahl, es gab weder Möbel noch Fenster. Allein eine übel riechende und total verdreckte Toilettenschüssel füllte eine der von der Tür entfernt liegenden Ecken und verhinderte, dass das Mädchen ihre Notdurft auf dem Boden verrichten musste.
Sie war allein. So weit sie zurückdenken konnte, war sie schon alleine gewesen. Zurückgelassen in der Finsternis. Manchmal, etwa alle drei bis vier Tage, brachte man ihr Essen. Die Fußklappe wurde geöffnet, ein Napf mit faulig stinkendem Brei oder gammeligen Fleischresten wurde hinein geschoben, dann schloss sich die Öffnung wieder. Dies war ihre einzige Verbindung zur Außenwelt und der alleinige Beweis dafür, dass es da draußen noch Menschen gab.
Die Zeit verstrich…
Schon lange hatte ihr niemand mehr zu essen gebracht, viel länger als sonst. Doch stimmte das überhaupt? Das Mädchen wusste es nicht, denn hier unten gab es keine Zeit. So wie die alles beherrschende Finsternis schwer wie ein bleierner Vorhang in der Luft hing, so war auch die Zeit in diesem Loch zähflüssig wie Teer. Nichts rührte sich und die einzigen Geräusche waren ihre eigenen: Ein leises Wimmern und das ziellose Scharren kleiner Kinderhände über groben Beton.
Tage wurden zu Wochen…
Mittlerweile waren jegliche Geräusche verklungen. Stumm lag das kleine Mädchen auf dem Rücken und starrte blind in das Nichts. Hunger und Durst hatten teuren Tribut gefordert. Ihre Atmung war ein leises Röcheln, die Augenlider bleiern schwer, der Wille zu Leben ein Haufen Scherben. Es ging zu Ende und sie wusste es. Nicht einmal der Furcht war sie jetzt noch fähig, und völlig entkräftet lag sie da, empfing die Dunkelheit um sich herum und erwartete voller Sehnsucht den Moment des alles erlösenden Schlafes.
Plötzlich knallte es von außerhalb der Tür. Ein dumpfer Ton, hinter den dicken Betonwänden selbst für ihre scharfen Ohren kaum zu hören, aber er war da. Sekunden der Stille folgten, während das Mädchen horchte. Dann erklang ein weiteres Geräusch. Metall rieb über Metall, als die Abdeckung des Sehschlitzes entfernt wurde, ein unwirklich erscheinender Lichtstrahl aus der neuen Öffnung flutete und die kleine Kammer in ein weißes Feuer hüllte, welches sie fast erblinden lies. In einer letzten, unfassbaren Anstrengung schob sie die Hände vors Gesicht, schloss die Augen und wandte sich unter Schmerzen ab von dem hellen Schein, der sie so quälte.
„Scheiße!“, fluchte es hinter dem dicken Stahl und das Licht verschwand wieder. Die Tür ächzte und schwang unter lautem Quietschen auf. Da war es wieder, dieses unvorstellbar schöne, doch so grausam stechende Feuer. Aber nach und nach verlor es an Stärke und wurde erträglicher. Eine fast komplett heruntergedrehte Petroleumlampe stand auf dem schmutzigen Boden und hüllte die Zelle in ein schummriges Zwielicht. Das kleine Mädchen wagte die Augen einen Spalt breit zu öffnen. Licht! Es schien ihr wie ein Blick in das Herz der Sonne selbst. Eine ganze Weile musste vergehen, bevor sie es ertrug, doch dann begannen ihre Augen nach all der langen Zeit wieder zu funktionieren.
Und so sah sie ihn das erste Mal. Mitten im Schein der Lampe stand ein großer, muskulöser Mann. Ein schwarzer Umriss, umgeben von Licht. Ganz still hatte er die ganze Zeit dort gestanden und sie angesehen, doch nun kam er langsam näher. „Hab keine Angst.“, brummte eine Stimme, rau und sanft zugleich. Das Mädchen hatte weder die Kraft mehr, noch den Willen, sich zu entziehen. Sie lag nur so da, dem Tode näher als dem Leben, und blickte den Hünen verwundert an. Als sich zu ihr hinunterkniete, wehte ein seichter Windhauch durch die Tür und glitt über ihre abgezehrten Wangen. Sie lächelte. Die Jahre in Finsternis hatten ein Ende, denn endlich war jemand gekommen, sie zu erlösen.
Kapitel 2 – Morgendämmerung
Eine fast idyllische Stille lag in der Luft, als sich die Morgensonne träge über den Horizont schleppte und ihren rötlichen Schein verbreitete. Ein trügerischer Frieden. Aus ihrer Deckung heraus konnten sie das Camp der Slaver beobachten. In einem winzigen Talkessel, ringsum eingeschlossen von Bergen und somit effektiv vor neugierigen Blicken abgeschirmt, war es bereits das fünfte, welches sie innerhalb der letzten paar Monate aufgestöbert hatten. Aus irgendwelchen Gründen florierte der Handel mit Sklaven in diesem Teil des Ödlands besonders gut und die Clans und ihre ‚Sammellager’ schossen wie Unkraut aus dem Boden.
Ihr Trupp war zu acht: Bettie, sein Freund Thomas, er selbst und fünf weitere, deren Namen er nicht kannte. Janson, der den Einsatz leitete, hatte ein weiteres Dutzend Männer auf der gegenüberliegenden Seite des Tals Stellung beziehen lassen, während sich mehrere Scharfschützen über das Gelände verstreut versteckt hielten und auf ihr Zeichen warteten.
Der Ranger strich über seine Winchester Widowmaker. Dies war sein Werkzeug, sein Instrument. Viele Leben hatte er damit ausgelöscht, viele weitere würden heute folgen. Die acht huschten ungesehen durch das dichte Gestrüpp und bald lag das Sklavenlager direkt vor ihnen. Vier wackelig konstruierte Türme aus Holz, Schrott und Wellblech markierten die Ecken, während ein löchriger Maschendrahtzaun und ausgelegter Stacheldraht es umzäunte. Hier und da rostete ein altes Autowrack vor sich hin, aber die Straße, die hier einst verlaufen sein musste, war längst vergessen und die Natur hatte sich dieses Fleckchen Erde zurückerobert. Vereinzelt wuchsen Bäume, und das hohe Gras, sowie einige natürliche Steinformationen, boten ausreichend Deckung für die Angreifer. Alle vier Wachtürme waren besetzt, doch sonst befanden sich nur wenige zu dieser frühen Stunde auf den Beinen. Ihre Feinde schienen keine allzu große Bedrohung darzustellen. Der Großteil der Slaver trug nur einfache Lederrüstungen oder grob zusammengezimmerte Metallplatten und war, abgesehen von Messern, Speeren und Knüppeln, selten mit mehr als Jagdgewehren oder leichten Maschinenpistolen bewaffnet. Alles in allem müsste die Sache relativ problemlos über die Bühne gehen. So dachten sie jedenfalls…
Dann ging der Tanz los. Ein ohrenbetäubender Knall durchpflügte die noch bis vor wenigen Sekunden vorherrschende Stille, ebenso wie den Schädel eines unglücklichen Sklavenhändlers, als ein Geschoss Kaliber .50 ungehindert durch ihn hindurch schlug. Blut spritzte und der zuckende Körper des Getroffenen geriet so ins Wanken, dass er von dem Turm fiel, auf dem er Wache gestanden hatte. Dies war das Zeichen. Unmittelbar folgten weitere Schüsse und die klug platzierten Sniper hatten innerhalb kürzester Zeit alle Türme ausgeschaltet. Die Verteidigung des Lagers lag brach, der Sturmangriff begann.
Lieutenant Bettie Connors war die erste, die den Schutz der Sträucher verlies und zum Angriff überging. Sie war ein tollkühnes Weibsbild und stand im Dienstgrad direkt unter Captain Janson. Der Ranger mit der Widowmaker blickte ihr voller Bewunderung hinterher. Er liebte sie, ihre Stärke, ihre Verbissenheit, ihren Mut; doch nie hatte er über seine Gefühle gesprochen. Wahrscheinlich würde so eine Frau wie Bettie ihn einfach auslachen und stehen lassen, dennoch war er fest entschlossen sein Glück in dieser Sache noch auf die Probe zu stellen. Vielleicht nach dieser Mission, vielleicht nach der nächsten. Allerdings war für derlei Gedanken jetzt keine Zeit, er rannte los. Eine gut platzierte Granate riss das klapprige Haupttor des Camps in Stücke und verschaffte ihnen so Zugang. Ihre City-Killer fest im Griff, preschte Bettie voran. Das Metall der Waffe funkelte im Schein der Sonne wild auf, als sie das Tor passierte und gleich den ersten Slaver in den Tod schickte, der dumm genug gewesen war, sich ihr offen entgegenzustellen.
Chaos brach aus. Das schrille Läuten von Glocken kündigte die Eindringlinge an und Slaver stürmten aus den Baracken, kamen aus allen Himmelsrichtungen herbeigeeilt, während sich der zweite Rangertrupp unterdessen von der gegenüberliegenden Seite Eintritt verschafft hatte, und ein blutiges Scharmützel im Zentrum des Camps begann. Zuerst lief alles mehr oder weniger nach Plan. Die Waffen ihrer Feinde hatten den schwer gepanzerten Kampfrüstungen der Ranger wenig entgegenzusetzen und es gab kaum Verluste zu beklagen. Allerdings hatte man die Zahl der Slaver unterschätzt, denn immer mehr krochen aus allen möglichen Verstecken und Behausungen hervor, und bald waren die Angreifer deutlich in der Unterzahl. Es wurde immer unübersichtlicher. Irgendwann verloren sich die Teams im dichten Getümmel und wurden auseinander gedrängt. Der Ranger Thomas Mac Neill geriet ins Kreuzfeuer. Er stand allein und chancenlos, doch der Zufall wollte, dass sein Freund ihn fand. Die Widowmaker donnerte, tötete. Den beiden gelang es, sich freizukämpfen und sie zogen sich zurück, um dem heftigen Beschuss zu entgehen. Das Gefecht war erbarmungslos. Sklavenpferche, die überall umherstanden, verkamen zu unehrenhaften Deckungen, denn die dort Eingesperrten fanden dort, hilf- und machtlos wie sie waren, einen bitteren Tod im Kugelhagel. Bettie kämpfte unterdessen noch immer im dicksten Getümmel. Auf einem weitläufigen Platz in der Mitte des Lagers stand sie und ein immer breiter werdender Kranz aus Leichen wuchs um sie herum. Das Kampfgewehr donnerte ein ums andere mal. Nichts und niemand schien ihr Einhalt gebieten zu können. Mehrere Kugelsalven prasselten auf ihre Rüstung, doch die Panzerung hielt stand, während das Psycho in ihren Venen sich mit Adrenalin vermischte und ihr Blut zum kochen brachte.
Dort sah er sie, nicht weit entfernt von seiner eigenen Position hinter einem umgekippten Brahminkarren. Diese unzähmbare Frau, in seinen Augen so wunderschön und stark. Doch als sein Blick auf sie fiel, surrte plötzlich ein heller Blitz durch die Luft und fuhr mitten durch ihre Brust hindurch, ein faustgroßes, qualmendes Loch zurücklassend. Verwundert blickte Bettie ihren Körper hinab und der Geruch von verbranntem Fleisch umhüllte sie. Dann sackte sie auf die Knie. Ein weiteres Mal knisterte die Luft. Das zweite Geschoss riss ihr den rechten Arm ab und die City-Killer flog durch die Luft, funkelte im Schein der Morgendämmerung ein letztes Mal. Die Frau wollte noch etwas sagen, doch statt Worte entfloh nur Blut ihrem Mund, und sie kippte zu Boden und stand nicht mehr auf.
In diesem Moment brach seine Welt zusammen und mit ihr starb auch ein Teil von ihm. Der ganze Kampfeslärm hallte nur noch dumpf in seinem Kopf und als er aus dem Augenwinkel Thomas an sich vorbeistürmen sah, kümmerte es ihn nicht. Sein Freund kam nicht weit. Aus einer der Wellblechhütten stapfte ein riesiger, breitschultriger Mann in Metallrüstung. Sein Gesicht war entstellt und in den klobigen Händen hielt er eine bizarre Monstrosität von Waffe. Der Riese sah den heraneilenden Thomas Mac Neill, drehte sich ihm zu und feuerte den dritten Blitz. Ein ekelhaftes Aufklatschen war zu hören, als die Kugel aus Licht ihr Ziel frontal ins Gesicht traf. Der Tote kippte nach hinten um, während ein paar letzte Zuckungen seinen enthaupteten Leib durchfuhren. Der Ranger mit der Widowmaker sah es, doch er fühlte nichts mehr. Etwas in ihm hatte die Kontrolle übernommen. Es machte ihn hart, blockierte die Trauer und erfüllte ihn mit Zorn. Der missgestaltete Riese stampfte weiter über den Platz, schoss wild umher und zog damit alle Aufmerksamkeit auf sich. Mehrere Kugeln fanden ihren Weg and den massiven Metallplatten vorbei und verwundeten das Ungetüm, doch das schien die Missgeburt nicht weiter zu beeindrucken. Weitere Ranger fielen, denn ihre Rüstungen schmolzen wie Butter unter dem Beschuss der Energiewaffe. Übermannt von Wut verließ der Mann mit der Widowmaker den Schutz seiner Deckung und rannte los, zog das Gewehr im Sprint und leerte den ersten Lauf. Die Ladung Schrot fand ihr Ziel in den Lenden des Riesen, doch dieser zeigte äußerlich kaum eine Regung. Der zweite Schuss traf lediglich den Brustpanzer und die Kugeln wurden von den schweren Metallplatten abgelenkt. Als der Ranger auf Armlänge herangekommen war und mit dem Kolben ausholte, packte der Riese nur zu und warf seinen Gegner zu Boden. Flink rollte sich der Niedergeworfene zur Seite, griff nach seinem Gewehr, doch als er den Kopf hob, sah er nur den glühenden Lauf des gewaltigen Plasmawerfers. Gleißendes Licht sammelte sich im Inneren dieser Tötungsmaschine und würde in wenigen Augenblicken sein Leben endgültig beenden. Es war vorbei…
Der Zweikampf mit einem gewaltigen Knall. Der Große taumelte, verriss die Waffe und jagte seinen letzten Schuss in das sandige Erdreich, ohne weiter Schaden anzurichten. Es regnete Blut und kleine Fleischklumpen, Knochensplitter stoben durch die Luft. Die obere Schädeldecke des Riesen war verschwunden und die Haut klaffe am nicht mehr vorhandenen Haaransatz weit auseinander. Jansons Barret M82 hatte ganze Arbeit geleistet. Viele hundert Meter entfernt kauerte er auf einem Bergkamm, überblickte das kleine Tal und hatte von dort, durch die Lichtblitze aufmerksam geworden, auf das Monstrum angelegt. Mit leeren Augen taumelte der Hüne noch ein paar unbeholfene Schritte umher, doch dann fiel er in den Staub und starb einen gnädigen Tod. Die Schlacht endete kurze Zeit später, denn die Flut der Slaver verebbte schließlich. Ohne Aussicht auf Erfolg suchten die letzten ihr Heil in der Flucht, doch keiner kam mit dem Leben davon. Das Lager wurde niedergebrannt und die paar wenigen überlebenden Sklaven der Freiheit überlassen. Die Ranger zogen ab.
Nach einer langen Fahrt, die er kaum bewusst wahrgenommen hatte, stand der Mann mit der Widowmaker wieder vor seinem kleinen Häuschen. Janson, der ihn hier abgesetzt hatte, startete den Motor des alten Trucks, verlor noch ein paar ermutigende Worte und machte sich dann auf den Heimweg. Matt und mit einem Gefühl der Leere trat der Ranger durch die Tür in sein Heim und warf einen Blick in das erste Zimmer. Das kleine Mädchen, welches er dort sah, war nicht älter als sechs oder sieben. Sie saß auf dem Fußboden und spielte mit einigen Holzfiguren. Als der Mann einen Fuß in den Raum setze, blickte sie zuerst erschrocken auf, doch dann wandelte sich ihr Gesicht in ein freudiges Lächeln.
„Greg! Du bist wieder da!“
Mit ausgestreckten Armen lief ihm die Kleine entgegen und er ging in die Knie, um ihre Umarmung zu empfangen.
„Ich hab‘ dich so vermisst!“, sagte sie zu ihm. „Warum musst du immer so oft fortgehen?“
Der Mann kämpfte mit den Tränen und ihm wurde warm ums Herz. Als die Geschehnisse des Tages erneut an seinem geistigen Auge vorbeizogen, wurde ihm seine eigene Verletzlichkeit bewusst. Nie vorher hatte er sich über das was er tat Gedanken gemacht, doch nun erkannte er seine Verantwortung. Er löste sich aus der Umarmung des Mädchens und schaute in ihre strahlend grünen Augen.
„Ich werde nicht mehr fortgehen, Jade.“, beantwortete er ihre Frage. „Nie mehr! Ich verspreche es.“
Kapitel 3 – Die Fahrt
Knatternd ruckelte der alte Truck durch das Ödland. Nichts wuchs hier, denn die unbarmherzige Hitze hatte alles Leben verdorren lassen. Das Land war tot. Viele Tage waren sie nun schon unterwegs und die Sonne brannte wie ein Feuerball über ihren Köpfen. Greg Dearing griff nach der Wasserflasche zwischen seinen Beinen und reichte sie seiner Tochter Jade hinüber.
„Hier Kleines, du hast schon lange nichts mehr getrunken. Nimm einen Schluck.“ Wortlos griff das Mädchen nach der Lederflasche und trank. Das Wasser war abgestanden und ekelhaft warm. Sie verzog das Gesicht in dem zwanghaften Bemühen die Brühe nicht wieder auszuspucken. „Bäh! Das schmeckt nicht.“ Greg lächelte, nahm die rechte Hand vom Lenkrad und wuschelte durch die Haare seiner Tochter „Ich weiß Spatz, aber bei der Hitze ist es wichtig, dass wir sehr viel trinken. Wir können froh sein, überhaupt genug Wasser dabei zu haben, sonst wären wir längst vertrocknet. Erinnerst du dich an dieses Gerippe, an dem wir vorbeigefahren sind? Willst du, dass so etwas aus uns wird?“ „Nein.“, antwortete sich schnell und erschauderte bei dem Gedanken. Nach kurzem Zögern nahm sie einen weiteren Schluck. „Schmeckt trotzdem nicht! Wann sind wir endlich da?“
„Bald Kleines. Bald.“, war seine Antwort, doch er log. Er wusste weder wie weit sie schon vorangekommen waren, noch wann sie ihr Ziel schließlich erreichen würden. Aber ein Zurück gab es nicht mehr. Greg Dearing hatte seinen Stern an den Nagel gehängt und die Ranger verlassen. Es war eine Entscheidung, die ihn sehr schmerzte, obgleich sie ihm nach wie vor richtig erschien. Mit Herzblut wusste er Recht und Gesetz zu vertreten, doch er liebte seine kleine Tochter zu sehr, als dass er es riskieren konnte, weiterzukämpfen und irgendwann nicht wieder heimzukehren, wie so viele seiner Freunde und Kameraden, die er auf dem Schlachtfeld hatte sterben sehen. Deshalb war er gegangen, hatte die Vergangenheit begraben, um tief im Süden eine neue Zukunft zu finden. Eine Zukunft für ihn und sein kleines Mädchen.
Ihr Ziel war der Hub. Greg Dearing kannte diesen Ort nur aus Erzählungen und war selbst nie dort gewesen, doch es hieß es sei die größte und bedeutendste Stadt im ganzen Ödland. Händler, Karawanen und allerlei fahrendes Volk kamen dort zusammen, um auf den gewaltigen Märkten ihre Waren anzubieten und Neuigkeiten auszutauschen. Für Greg, der einen Neubeginn suchte, war dieser Ort eine offensichtliche Wahl, denn Arbeit gab es dort zuhauf und damit auch genug Möglichkeiten sich ein neues Standbein aufzubauen. Die Reise dorthin war lang, doch er hatte genug Deckel und Vorräte aufgespart, um das Wagnis einzugehen. Also waren sie aufgebrochen. Viele hundert Meilen hatten sie bereits hinter sich gebracht und fuhren nun mitten durch unbewohnte Steppe, die sengende Mittagssonne über ihren Köpfen.
„Wann ist bald?“, quengelte Jade auf dem Beifahrersitz. Greg lachte nur leise und blickte wieder nach vorne. „Du kleiner Quälgeist, wart’s einfach ab.“, meinte er gutmütig und beendete damit das Gespräch.
Er erinnerte sich zurück. Es waren nun schon einige Jahre vergangen, seit er das Mädchen in einem dunklen Verlies gefunden hatte. Sie war nicht von seinem Blut, sondern eine Waise gewesen, und nichts wusste er von ihrer Herkunft oder Vergangenheit, denn sie konnte ihm nicht erzählen, was sie selbst schon lange vergessen hatte. Faktisch waren sie einander fremd, er ihr zu nichts verpflichtet, und doch liebte er sie wie ein Vater das eigene Kind. Da sie ihren Namen nicht mehr wusste, hatte Greg sie Jade genannt, denn ihre Augen, strahlend grün, glühten wie wunderschöne Jadesteine. Und indem er ihr einen Namen schenkte, seinen Namen, machte er sie zu seiner Tochter. Danach änderte sich alles. Fortan sah Greg die Dinge aus einem anderen Blickwinkel, entdeckte Glück wo er es vorher nie gesucht hatte. Nur wenige Monate vergingen, bis er seinen Dienst bei den Rangern quittierte. Es gab viel Gerede, doch das kümmerte ihn nicht. Am Abend vor ihrem Aufbruch, war er mit Captain Janson ein letztes Bierchen trinken gegangen. Lange hatten sie miteinander gesprochen, aber nachdem alle Überredungskunst Greg nicht hatte überzeugen können zu bleiben, waren sie in Freundschaft auseinander gegangen.
„Ein Abschiedsgeschenk. Für viel Blut und Schweiß im Dienste der Ranger.“, waren Jansons letzte Worte an ihn, und er hatte ihm die Schlüssel seines alten Trucks in die Hand gedrückt. „Du hast einen langen Weg vor dir. Nimm ihn, er gehört dir. Du warst immer einer meiner besten, Greg. Viel Glück! Und jetzt fort mit dir!“
„Greg, da ist was! Greg, da! Schau mal, da!“, holte ihn Jade plötzlich wieder in die Realität zurück. Sie zappelte aufgeregt auf ihrem Sitz herum und zeigte mit dem rechten Arm aus der fensterlosen Beifahrertür. Der Ex-Ranger bremste den Truck ab. Die Hitze war unerträglich und zuerst konnte er nur ein Flimmern in der Ferne ausmachen. Schweiß lief ihm ins Auge und er wischte sich mit der Handfläche über das Gesicht. Als Greg dann zum zweiten Mal hinsah, konnte er ihn sehen. Hinter einem kleinen Hügel kam ein drahtiger Mann zum Vorschein. Er jagte wie von der Tarantel gestochen durch die Einöde und hielt mitten auf den Truck zu. Doch es war kein Angriff. Der Bursche rannte um sein Leben. Die Kreatur, die ihm immer dicht auf den Fersen blieb, war groß, schnell und wahrlich kein seltener Anblick in dieser Gegend.
„Radscorpion.“, knurrte Greg und griff unter den Fahrersitz. Hervor zog er ein doppelläufiges Gewehr. Die Winchester Widowmaker war alles, was er aus seiner Zeit als Ranger noch mit sich führte. Die Waffe war alt, doch dank liebevoller Pflege in einem ausnahmslos perfekten Zustand. In schönen, geschwungenen Lettern war der Name ‚Bettie’ in das Mahagoniholz am Kolben eingeschnitzt. Eine Erinnerung an Leid und ein gebrochenes Herz. „Du bleibst hier drin!“, bekam das Mädchen zu hören. „Mach auf gar keinen Fall die Tür auf!“
Jade antwortete nicht. Sie starrte wie gebannt auf das ihr dargebotene Schauspiel. Der davonlaufende Kerl war nun besser zu erkennen. Er trug ausgewaschene Bluejeans und eine schwarze Lederjacke. Schulterlanges, dunkelbraunes Haar flog nass geschwitzt hin und her, während er verzweifelt versuchte seine Haut zu retten. Zwecklos. Das Tier hatte nicht nur drei Beinpaare mehr, sondern auch nicht, wie er, mit konditionellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Skorpion sein Opfer erreichen würde. Überrascht zuckte Jade zusammen, als die Fahrertür mit einem lauten Knall zugeschlagen wurde. Der Boden staubte unter Gregs schweren Stiefeln und mit langen Schritten eilte er dem anderen zu Hilfe. Dieser war vielleicht noch dreißig Meter vom Truck entfernt, als er plötzlich strauchelte. Ein paar unbeholfene Stolperschritte bekam er noch zustande, doch dann knickten ihm die Beine weg und er fiel. In der gleichen Sekunde war der Radscorpion über ihm. Der stachelbewehrte Schwanz schnellte nach vorne, ein gequälter Schrei war zu hören, dann donnerten zwei laute Schüsse. Ein Zucken durchlief das Monster, bevor es leblos in sich zusammen sackte. Aus unmittelbarer Nähe hatten zwei Ladungen Schrot die Panzerung am Kopf durchbohrt und das kleine Hirn des Arachniden zerstört.
Greg packte das Gewehr weg, nahm den zappelnden Mann bei den Armen und zog ihn ein paar Meter von dem toten Tier weg. Der Stachel hatte sich durch das Bein gebohrt, eine etwa fingerdicke Wunde klaffte tief im Fleisch. Der Kerl schrie wie am Spieß, als das Gift damit begann Nerven und Muskeln anzugreifen.
„Bleib ruhig Mann, es ist nur das Bein. Du wirst durchkommen. Halt still, verdammt!“
Dann sah Greg die große Tätowierung am Hals des Mannes und er erkannte sie. Schnell durchsuchte er das sich vor Schmerz windende Häufchen Elend und fand einen Flachmann, randvoll gefüllt mit Wasser, jedoch keinerlei Waffen. Wo immer der Bursche her kam, man hatte ihn zum Teufel gejagt. Allein und zu Fuß wäre er nie so weit in das Ödland vorgedrungen, man musste ihn also hier irgendwo ausgesetzt haben.
„Willst du wissen was ich von euch Slaver-Abschaum halte?“, sprach Ex-Ranger kalt. Er stand auf und kippte den Wasservorrat des Verletzten über dessen Gesicht aus. Dieser verstand nicht was mit ihm geschah. Er wandte den Kopf umher, versuchte schützend die Hände zu heben, doch als er es letztendlich schaffte, landete die geleerte Flasche auch schon auf seinem Bauch. Greg nahm seelenruhig wieder das Gewehr zur Hand. Der doppelte Lauf schnappte auf und zwei Patronen fanden ihren Weg in die Kammern.
„Weißt du, Radscorpion Gift ist selten tödlich, es greift nur die Nerven an und verursacht höllische Schmerzen. Nach einer Weile klingt der Schmerz ab, und solange man keine Überdosis erwischt hat, erholt man sich recht schnell wieder.“
Mit diesen Worten legte er Bettie an und zielte. Der Kerl am Boden war noch jung, sicher nicht älter als zwanzig. Greg dachte wieder an den Moment, an dem er das dunkle Kellergewölbe gefunden hatte. Viele Kinder waren dort gewesen, manche geschändet, andere totgeschlagen, der Rest verendet vor Hunger und Durst. Nur eine blieb übrig: Jade. Das Kostbarste, das er in seinem Leben gefunden hatte, versteckt am schlimmsten Ort, den er jemals ertragen musste. Wäre er nicht gekommen, lange Zeit hätte auch sie nicht mehr durchgehalten. Warum die Slaver die Kinder so gequält hatten fand er nie heraus. Es war egal. Der Grund änderte nichts an der Grausamkeit.
„Sowas wie du…“, aber Greg beendete den Satz nicht. Seine Zähne knirschten. Es gab keine Worte für den Zorn und den Hass, den er gegen diese Art von Mensch entwickelt hatte. Menschen, die zum Spaß töten, die Schwachen knechten und wie Vieh behandeln. Raider, Slaver, in einem Wort: Abschaum. Der Junge öffnet die Augen, streckte einen Arm aus und sah Greg mit einem flehenden Blick an. „H-Hilfe!“, bettelte er unter Mühe eine Stimme hervorzubringen. „Bitte!“ Aber da war kein Mitleid. Greg dachte an die Kinder. Ihre kleinen, toten Körper. So jung, so unschuldig. Er richtete die Waffe auf den Unterleib des Slavers und schoss. Zweimal donnerte es. Der junge Mann heulte auf, seine beiden Oberschenkel waren völlig zerfetzt. „Verrecken sollst du!“, grollte der Ex-Ranger. „Langsam ausbluten, wie ein Schwein! Denn genau das bist du! Du und deine Leute!“ Er spuckte angewidert aus, dann drehte er sich um und ging zurück zum Truck. Mit finsterer Mine stieg er ein, schloss die Tür hinter sich und startete den Motor.
„Was ist mit dem Mann?“, fragte Jade aufgeregt und blickte ihn mit großen Augen an. Zuerst starrte Greg nur geradeaus in die Ferne, doch dann lächelte er sie traurig an, legte die rechte Hand auf ihren Kopf, beugte sich zu ihr und küsste ihre Stirn. „Es war ein böser Mann. Ein Slaver. Die Wildnis hat ihn sich geholt und er hat es verdient.“ Eindringlich sah er sie an, sah das dürre, halb tote Mädchen auf dem kalten Betonboden, eingesperrt in einer dreckigen Zelle.
„Diese Leute sind böse, Jade. Schlimmer als wilde Tiere! Sie säen Hass und Gewalt, behandeln Menschen wie Vieh und verachten das Leben. Deshalb verachte ich sie!“
Sie fuhren weiter. Der Slaver hörte den davonbrausenden Truck und weinte vor Schmerz und Verzweiflung. Noch viele Stunden litt er, bevor ihn endlich der Tod ereilte und ihn von seinen Qualen erlöste. Was Greg Dearing nicht wusste war, dass der junge Mann von seinen eigenen Clanbrüdern ausgesetzt worden war. Er hatte mehreren Sklaven zur Flucht verholfen und der Gilde den Rücken gekehrt.
Kapitel 4 – Randolph
Die Tür ging auf und ein kleines Glöckchen am oberen Türrahmen klingelte fröhlich, um den neuen Besucher anzukündigen. Ein älterer Mann, etwa in den Fünfzigern, trat in den großen Raum und blickte sich um. In der Ecke zu seiner Rechten stand ein großer, dunkelhäutiger Kerl, gekleidet in eine schwere Metallrüstung, die Arme und Beine durch Schienen und dicke Lederriemen gepanzert. An einem Halfter um seine Hüften baumelte eine Laserpistole, in der Hand hielt er einen Viehtreiber. Die linke Wand des Ladens war mit Schränken zugestellt. Große Holzkisten, Boxen und Kartons türmten sich in den Ecken und an der gegenüberliegenden Wand. Zu kaufen gab es hier Spielzeug der besonderen Art: Messer, Knüppel, Speere, kleine Handfeuerwaffen, Flinten und Sturmgewehre. Ein paar besonders gut erhaltene und wertvolle Exemplare hingen angekettet an Wandhalterungen, während der abgenutzte Ramsch in den vielen Wühlkisten verstaut lag. Es war ein wahres Eldorado für Waffennarren und in jeder Größe, Ausführung oder Qualität staubten sie hier vor sich hin. Geradeaus erstreckte sich, beinahe von Wand zu Wand, eine wuchtige Theke. Dahinter stand eine schlanke Frau mit dunklen Haaren und stahlblauen Augen. Sie lächelte dem alten Herrn freundlich zu. Die beiden kannten sich schon eine lange Zeit.
„Greg! Grüß dich. Hast dich ja lange nicht mehr blicken lassen. Was gibt’s neues?“
Der Mann lächelte. Die Jahre waren nicht spurlos an Greg Dearing vorübergezogen, doch er war in Würde gealtert. Sein Haar war noch voll, wenn auch an vielen Stellen bereits ergraut. Sein Gesicht war von feinen Falten durchzogen und in den Jahren ein wenig eingefallen, doch die tiefliegenden Augen versprühten noch immer die Frische und Vitalität eines jungen Burschen. Sein Körper hatte wenig von der alten Spritzigkeit und Kraft eingebüßt, denn nach wie vor hielt er sich mit täglichen Leibesertüchtigungen fit und trainierte mit seiner Tochter regelmäßig Kampf und Ausdauer. Er war ein charismatischer, ja beliebter Mann hier im Hub. Trotz seiner Vergangenheit als Ranger und Frontkämpfer, die eher seine kämpferischen Talente Licht rückte, überraschte er bei seinen Geschäften oft durch ein wohl überlegtes Vorgehen und seine spitzfindige Intelligenz. Dank dieser breit gefächerten Talente, hatte er es in den zurückliegenden Jahren zu viel gebracht. Was mit einem kleinen Laden begann, endete einige Jahre später in einem großen Geschäft. Doch Dearing bot keine normalen Waren an und handelte auch eher selten mit privaten Kunden. Stattdessen spezialisierte er sich auf Werkzeug, sowie Baustoffe aller Art. Er belieferte hauptsächlich die großen Karawanenhäuser und kümmerte sich ebenfalls um die Instandhaltung und Reparatur der vielen Brahminkarren und Transportmittel, indem er die benötigten Ersatzteile zur Verfügung stellte. Später, als seine Mittel wuchsen, erlangte er eine gewisse Monopolstellung. Er schloss gewichtige Verträge mit den Großen Drei ab, erwarb damit exklusive Handelsrechte, und festigte seine Position als feste Größe im Hub damit noch weiter. Ja, das Schicksal hatte es wirklich gut mit ihm gemeint. Manchmal war ihm selbst nicht geheuer, wie das alles hatte geschehen können. Dann dachte er an die alten Tage zurück, als er noch auf dem Schlachtfeld gestanden hatte, das Gewehr in der Hand und nichts anderes als den Kampf im Kopf. Besonders an jenen Tagen, wenn ihn die Nostalgie heimsuchte, kam Greg hierher in den Waffenladen in Downtown. Er und Beth, die Besitzerin, waren in den Jahren zu guten Freunden geworden und sie fachsimpelten gerne über Waffen und deren Gebrauch.
„Ja, ich hatte viel um die Ohren und leider wenig Zeit.“, gab Greg ihr freundlich zur Antwort.
Auf ein Nicken der Frau hin, zog sich der große Schwarze zurück und ging zur Tür hinaus, wo er vor dem Laden warten und in der Zwischenzeit niemanden hineinlassen würde. Als er draußen war, kratzte sich Greg am Kopf. Mit einem schiefen Grinsen sah er zu Beth herüber. „Der ist neu, oder?“ Der Blick der Frau wurde ernst und ein Schatten schien über ihr Gesicht zu huschen. „Er ist notwendig… leider. Erst vorgestern hat jemand den Laden überfallen. Mit den Caravans kommt heutzutage immer mehr zwielichtiges Volk in die Stadt. Es wird immer schlimmer!“ Sie seufzte, lehnte sich an die Wand hinter dem Tresen, verschränkte die Arme und sah aus dem Fenster.
„Was ist passiert?“, fragte der der Ex-Ranger mit einem Ausdruck der Sorge im Gesicht und trat an die Theke heran. Wortlos nickte Beth auf eine schwarze Stelle an der Wand. „Derrek hat ihm mit der Laserpistole ein drittes Nasenloch verpasst. Der Schuss ist mitten durch den Schädel gegangen. Scheiße, der Laden hat den ganzen Tag nach Grillbude gestunken! Zum Glück hat meine Ware nichts abbekommen.“ „Der große heißt also Derrek?“ fragte Greg eher rhetorisch und trat an die Wand, um sich das Einschussloch aus der Nähe anzusehen. Ein hässlicher Brandfleck umrandete die Stelle, an der sich die Ladung etwa einen Zentimeter in die Wand geschnitten hatte. „Nett.“, meinte er schlicht, als er mit dem kleinen Finger etwas verkokelten Putz herauspulte und mit dem Daumen verrieb. „Grillbude hm? Vielleicht solltest du deinem Assistenten eine Bazooka in die Hand drücken. Dann hast du nach dem nächsten Überfall eine schöne Sicht nach draußen und jede Menge frische Luft.“ Beth runzelte die Stirn, musste dann aber doch lachen. Sie trat von der Wand zurück und nahm eine lockere Haltung ein. „Das würde dir gefallen, nicht wahr!?“, kicherte sie, doch als sie nach einer kurzen Pause weiter sprach, kehrte der Ernst in ihrer Stimme zurück. „Leider muss ich mitziehen. Ich will mich ja nicht beschweren, dass die mit immer größeren Kalibern hier rein marschieren, schließlich verkaufe ich das Zeug. Aber das Gesocks wird immer dreister! Die Tage, als ne 10mm unter der Theke gereicht hat, sind lange vorbei. Der Sheriff war viermal hier in der letzten Woche. Kannst du dir das vorstellen, Greg? Viermal! Und mittlerweile landen mehr Leute unter der Erde als in der Zelle.“
Greg verlor ebenfalls seinen Humor und sah die Ladenbesitzerin nachdenklich an. „Es ist dieser Randolph.“, meinte er düster. „Seit dieser Halunke den Falcon übernommen hat, sammelt sich Tag für Tag immer mehr Dreck in der Stadt. Der Typ baut den Untergrund wieder auf. Es heißt, er heuert allerlei Pack für seine dreckigen Jobs an. Raub, Mord, Erpressung… und zahlen soll er gut. Wenn das so weiter geht, hat er bald sämtliche Konkurrenz ausgeschaltet und kann hier schalten und walten wie es ihm passt und gefällt. Schon jetzt hat er fast überall seine Finger mit drin. Man sagt, er habe sogar schon irgendwelche dreckigen Deals mit den Big Three abgeschlossen.“
„So? Sagt man das?“ Beth lies keine Gefühlsregung erkennen. „Du solltest nicht alles glauben, was du auf der Straße so aufschnappst. Soweit ich weiß, ist Paul Randolph ein ehrbarer Geschäftsmann. Er hat den Falcon gekauft und interessiert sich neben der Gastronomie eben noch für andere Zweige des Gewerbes. Er hat Geld und Einfluss, meidet jedoch die Öffentlichkeit. Da die Leute also nicht viel über ihn wissen, ist es nur natürlich, dass irgendwelche blödsinnigen Gerüchte in die Welt gesetzt werden.“
„Blödsinnige Gerüchte?“ Gregs Stirn legte sich in Falten. „Nimm es mir nicht krumm Beth, aber ich hätte dich für klüger gehalten! Jeder Blinde sieht, was da draußen vor sich geht. Sieh dir doch das Pack im Falcon an! Glaubst du die spielen Billard oder Poker in den Hinterzimmern und Kellerräumen, in die niemand gelassen wird!? Glaubst du die benutzen ihre Schiesseisen zum Flaschen öffnen!?“
„Keine Ahnung was die im Falcon treiben, aber es interessiert mich auch nicht.“, gab sie ihm schnippisch zur Antwort. „Nur weil sie dich da nicht reinlassen, müssen sie nicht gleich irgendwelche Verbrechen aushecken. Und was die Waffen angeht: Heutzutage rennt jeder mit einem Ballermann durch die Gegend, Greg. Zumindest jene, die sich einen leisten können. Es stirbt sich eben schnell in unserer Zeit. Du kannst nicht jeden, der eine Waffe trägt und nicht zu den Gesetzeshütern zählt, als Kriminellen abstempeln!“
Greg verzog das Gesicht. „Ich stempele niemanden ab, aber ich erkenne einen Halunken, wenn er vor mir steht. Mein halbes Leben lang hatte ich mit solchen Maden zu tun. Das sind keine Abenteurer auf der Suche nach Geld oder Ruhm, sondern Söldner und Verbrecher!“
„Bitte, verschon mich mit deinen Ranger-Geschichten.“, winkte Beth ab. „Was ist los mit dir? Bist du sauer, dass die Merchants nicht mehr nur mit dir verhandeln wollen? Schnappt dir Randolph vielleicht die Kunden weg!? Willst du ihn deswegen schlecht reden?“
Erstaunen verwandelte Gregs Gesicht in einen Ausdruck echter Verwunderung und er wurde zornig. So etwas hätte er seiner alten Freundin nicht zugetraut „Was redest du da für ein dummes Zeug, Beth? Du kennst mich! Wir kennen uns beide schon seit Jahren! Denkst du wirklich so von mir? Randolph zieht das Verbrechen in die Stadt. Jeder sieht es, doch niemand tut etwas dagegen. Sogar die Polizei lässt ihn zufrieden. Wahrscheinlich schmiert er die Bande, damit sie die Beine still halten und zum richtigen Zeitpunkt in die falsche Richtung sehen.“
“Das ist paranoider Blödsinn!“, fauchte Beth ihn an und ihre blauen Augen funkelten bösartig. Die sonst so liebenswürdige Person legte ein völlig neues und unerwartetes Verhalten an den Tag. „Du solltest vorsichtig sein mit dem, was du da redest, es könnte dich in große Schwierigkeiten bringen! Deine Tage als Ranger sind lange gezählt, Greg, also hör auf den Sheriff zu spielen!“
Der alte Mann schüttelte den Kopf und seufzte. „Vergiss es Beth, ich bin nicht gekommen, um mich mit dir zu streiten.“ Er ging zu einem der Schränke und durchstöberte die Regale. Beths Blick folgte ihm. Schweigend sah sie ihm zu, wie er mit geschulten Blicken und Handgriffen diverse Waffen inspizierte. Nach einer Weile entschied er sich für eine äußerst gut erhaltene, silberne Desert Eagle. Er trat vor und legte die Waffe auf den Tresen.
„Die ist gut, die nehme ich. Gib mir bitte noch sechs Magazine dazu.“ Beth sah ihn etwas verunsichert an. Der Blick, den ihr der alte Mann zurückwarf, war für sie nicht lesbar. Weder Wut noch Reue über das eben Gesagte spiegelte sich in Greg Dearings scharfen Augen. Sie hielt ihm nicht lange stand, wandte sich ab und fixierte die Pistole. „Was ist mit deiner Widowmaker?“, begann sie zögerlich. „Ich dachte du hängst so an dem Gewehr. Oder hat es den Geist aufgegeben?“ Greg zwang sich ein seichtes Lächeln ab. Nach dem Wortwechsel kam ihm die Frau seltsam verändert vor. Es war ihm nicht mehr nach reden, auch nicht nach Smalltalk, und er wollte einfach nur noch schnell seine Erledigung hinter sich bringen. „Nein, ich suche einfach eine Zweitwaffe.“, entgegnete er kurz angebunden. Beth nickte. „Verstehe. Warte eine Sekunde.“ Mit gesenktem Kopf ging sie in ein Hinterzimmer. Es war ihr privater Wohnbereich, doch in großen, abschließbaren Stahlschränken lagerte hier auch die ganze Munition. Es war viel zu gefährlich, sie vorne zu bunkern, und Platz gab es hier hinten genug. Beth suchte sechs Magazine Kaliber .44 Magnun heraus, dann trat sie zurück in den Verkaufsraum. „Wieviel?“, fragte Greg und als sich ihre Blicke trafen, erntete die sonst so fröhliche Ladenbesitzerin nur Leere. Schuld bedrückte ihre Seele. Als sie sprach, war es leise und glich beinahe einer Entschuldigung. „Nimm das Zeug. Geht aufs Haus.“
Der alte Mann nickte. „Danke.“ Er steckte fünf Magazine ein und lud mit dem sechsten die Waffe. Dann wanderte die Pistole hinter seinen Rücken in den Hosenbund. „Mach es gut, Beth.“, waren seine letzten Worte, bevor er sich umdrehte und den Laden verlies. Das kleine Glöckchen bimmelte zweimal fröhlich auf, als sich die Tür öffnete und wieder schloss; dann war er fort. Der große Schwarze rauchte draußen eine Zigarette. Er warf Greg einen finsteren Blick hinterher, als dieser Richtung Südwesten über den Markt wanderte und langsam in der Menschenmenge verschwand. Der Wächter schnippte die Kippe in den Sand, hob den Viehtreiber auf, den er an die Hauswand gelehnt hatte und trat in den Laden. Abermals bimmelte das Glöckchen. Der Wächter warf Beth einen prüfenden Blick zu. „Probleme?“ „Nein.“, antwortete sie in einem harten Ton. „Pass kurz auf den Laden auf, ich bin mal eben hinten.“ Der Schwarze nickte. In ihrem Zimmer schloss Beth die Tür hinter sich und setzte sich an einen alten Holztisch, der in der Mitte des Raumes stand. Den Kopf auf die Hand gestützt saß sie da, hatte die Augen geschlossen und seufzte. Als sie wieder aufsah, fiel ihr Blick auf eine Kiste. Sie war aus Holz, etwa anderthalb Meter lang und einen halben Meter hoch. Beth hatte sie am Vorabend dort hingestellt. Es war die nächste große Waffenlieferung an Randolph. Nicht der Kleinkram, den sie vorne im Laden verkaufte, sondern schwere Geschütze, Granaten und einige Energiewaffen. Ein paar seiner Männer würden sie in der Nacht abholen… und sie würden gut zahlen.
Greg schlenderte weiter, bis er den Markt hinter sich lies und die Heights erreichte. Hier wohnte er seit einigen Jahren. Nachdem er zu genug Geld gekommen war, hatte er sein Heim und Geschäft in das noble Viertel umgesiedelt und genoss seither dessen Schutz und Sauberkeit, während der Rest des Hub immer mehr im Dreck versank. In Gedanken vertieft erreichte er schließlich eine stilvolle Villa. Sein Zuhause. Die Wache am Haupteingang nickte ihm freundlich zu und berichtete von einem Besucher, der während Gregs Abwesenheit eingetroffen sei. Der alte Mann runzelte die Stirn, fragte jedoch nicht weiter nach. Er trat ein.
Auf einem etwas fusseligen Sofa im Wohnbereich saß eine wunderschöne, junge Frau, vielleicht Anfang zwanzig. Sie las in einem Buch, doch als sie den alten Herrn bemerkte, legte sie es beiseite und strahlte ihn an. „Hey Greg, wo warst du so lange? Da komm ich schon früher zurück und du bist nicht da!“ Dem alten Mann ging das Herz auf und er vergaß sofort die Auseinandersetzung mit Beth, die ihn den ganzen Heimweg noch beschäftigt hatte. Er ging auf seine Tochter zu und die beiden umarmten sich. „Mädchen, ich hab dir schon tausendmal gesagt, du sollst mich ‚Dad’ nennen.“, lachte er und war froh, sie wiederzusehen. Jade grinste frech. „Wie du meinst, Greg!“ „Ach du warst schon immer eine Plage, Jade!“, witzelte er vergnügt. „Sieh dir meinen Kopf an. Diese grauen Haare kommen nicht vom Alter, das sage ich dir!“
Jade Dearing war in letzter Zeit immer öfter fort. Neugier und der Drang nach Abenteuer lagen ihr im Blut, weshalb sie seit ihrer Volljährigkeit – denn vorher hatte sie Greg nicht gehen lassen – immer wieder die verschiedensten Karawanen auf ihren Touren durch das Ödland begleitete. Der alte Dearing hatte aus der Not eine Tugend gemacht und beauftragte seine Tochter während dieser Fahrten des Öfteren mit kleinen Aufträgen oder Besorgungen. Etwa drei Wochen war sie diesmal weg gewesen und unerwartet zwei Tage früher als erwartet wieder heimgekehrt. Die beiden unterhielten sich lange und Jade erzählte von ihren Erlebnissen, so wie sie es immer tat. Danach aßen sie gemeinsam zu Abend. Als sie später zufrieden und gemütlich wieder in der Wohnstube saßen, legte Greg eine Hand auf Jades Schulter. „Komm mal mit, Süße, ich will dir etwas zeigen.“ Er stand auf und verlies den Raum. Jade folgte ihm in ein kleines Nebenzimmer. „Das wollte ich schon früher machen, aber irgendwie habe ich es immer vergessen. Ich will nicht, dass du dich mit diesem rostigen Plunder abgibst, der fliegt dir früher oder später nur um die Ohren.“, sprach er zu ihr, doch sie verstand nicht, was er meinte. Sie sah, wie ihr Vater an eine Kommode trat und eine der Schubladen öffnete. Er griff nach einem länglichen Gegenstand, eingewickelt in rotes Tuch aus feinem Stoff, und legte ihn ab. Jade trat neben ihn, als er dieses Ding auswickelte. Ein Gewehr, alt, doch makellos. Das schöne Mahagoni-Holz schimmerte seicht im Licht. Es war die Waffe ihres Vaters. Das letzte Stück Vergangenheit, welches er aus seiner Zeit als Ranger bewahrt hatte.
„Jade, ich möchte dir Bettie vorstellen. Sie war mir stets treu und hat mich auf all meinen Wanderungen immer beschützt. Genauso wird sie jetzt dich beschützen. Ich schenke sie dir.“
Kapitel 5 – Eine Tour nach Frisco
~San Francisco~
„Sie können sich wieder anziehen Miss Dearing, die Behandlung ist abgeschlossen.“
Die Tonlage des Arztes war gewohnt professionell und fachmännisch, aber Jade spürte seine gierigen Blicke auf ihrem nackten Körper. Kaum hatte sie ihre Kleider wieder angelegt, da begann er sie im Geiste auch schon wieder auszuziehen. Sie sah es in seinen Augen, seiner Mimik. „Sind Sie zufrieden mit dem, was sie sehen?“, fragte sie mit einem Schmunzeln im Gesicht, welches der Mediziner jedoch nicht sehen konnte, da sie ihm den Rücken kehrte. Die zweideutig gestellte Frage machte ihn merklich nervös. Er begann zu stottern. „Ich? N-Natürlich! Alle Sitzungen verliefen ohne Komplikationen. Es werden absolut keine Narben oder andere Makel zurückbleiben, darauf haben Sie mein Wort. Sie hatten großes Glück, dass man Sie so schnell hier hergebracht hat. Der Gewebeverfall hatte noch nicht den kritischen Punkt überschritten.“
Glück. Ja, es war Glück gewesen. Unglaubliches Glück sogar, dass sie dieses Blutbad überlebt hatte. So viele waren sie zu Beginn gewesen und doch blieben am Ende nur wenige übrig, die dieses Glück nun mit ihr teilten.
~Zuvor~
Jade öffnete langsam die Augen und erblickte den trüben Himmel eines wolkenverhangenen Nachmittags. Sie lag auf dem Rücken, alle Viere von sich gestreckt. Matt, müde und unendlich schwer kam sie sich vor. Ein ohrenbetäubendes Fiepen hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Schrill übertönte es alle anderen Geräusche, quälte sie wie tausend Nadelstiche. Jade hatte das Gefühl, als müsse jeden Moment ihr Schädel explodieren. Unter Anstrengung gelang es ihr, die Hände zum Kopf zu führen und sich die Ohren zuzuhalten, doch auch das brachte keine Linderung. Der Krach lärmte unberührt weiter. Dann spürte sie Feuchtigkeit. Blut. Ihre Hände waren blutig. Sie reckte den Kopf und obwohl sie den Schmerz noch nicht fühlen konnte, trieb ihr das, was sie sah, die Tränen in die Augen. Ihre Kleidung hing nur noch in Fetzen, offene Wunden entblößten das rohe Fleisch und einige Splitterfragmente hatten sich tief in ihren Leib gebohrt. Überall war Blut. Ihr Blut und das der anderen, denn rings um sie herum lagen die Leichen der Gefallenen und tränkten den trockenen Boden in tiefes Rot.
Die Zeit verstrich. Das Fiepen wurde schwächer und verschwand irgendwann, doch dafür kam der Schmerz. Nun, da das aufgestaute Adrenalin langsam ihren Körper verließ, konnte Jade ihn spüren. Sie ertrug ihn still, denn in der Welt zwischen Träumen und Wachen, in der sie nun weilte, hatte sie nicht mehr die Kraft ihren Qualen Ausdruck zu verleihen. Leer starrte sie zur Seite; ihre Atmung kaum mehr als ein leises Flüstern. Zum zweiten Mal in ihrem Leben stand sie auf der letzten Schwelle, nur wenige Schritte vom Ende entfernt. Doch sehnsüchtig blickte Jade zurück. Sie wollte noch nicht gehen.
Ohne Vorwarnung stampfte plötzlich ein schwerer Stiefel in ihr Blickfeld, trat auf eine Stelle unmittelbar neben ihre ausgestreckte Hand. Die Augen fast geschlossen und am letzten Faden gezogen, der sie noch im Diesseits hielt, packte sie zu…
~San Francisco~
„Von sowas hab ich keine Ahnung, aber wenn sie es sagen Doc.“ Jade zog den Ärmel hoch bis über den Ellenbogen und betrachtete ihren Arm. Die Haut war noch etwas wund und an vielen Stellen gerötet. Auch die dünnen Schnitte konnte man hier und da noch als winzig rote Fäden erkennen, aber ein Verband war nicht mehr nötig. Die ersten drei Sitzungen hatte sie in künstlichem Schlaf verbracht und nicht bewusst miterlebt. Es mussten schwere Operationen gewesen sein. Später waren unter leichter Betäubung nur noch kleinere Korrekturen und Feinarbeiten vorgenommen worden, welche heute mit der siebten Sitzung ihr Ende erreichten.
„Nun ja, ich will Sie nicht mit Details langweilen.“, meinte der Arzt und betrachtete Jades ansehnliches Hinterteil, welches ihn in einer engen Jeans fröhlich anlächelte. „Sagen wir einfach, Sie hatten einen sehr fähigen Schutzengel und mächtig Hilfe von diesem Wunderwerk der modernen Medizin. Wirklich fantastisch diese Maschine, nicht wahr!?“
~Zuvor~
Jade lag unter einem der Karren und verteidigte ihr Leben. Dieses Gewehr war einfach fantastisch! Der Rückstoß beim feuern war hart, aber erträglich. Kein Mündungsfeuer war zu sehen, wenn der Abzug betätigt wurde, jedoch konnte man ein undefinierbares Zirpen hören, unmittelbar gefolgt von einem lilafarbenem Schweif, der fast geräuschlos aus dem Lauf schoss und die kerzengerade Flugbahn des Geschosses erahnen lies, bevor er binnen Sekundenbruchteilen wieder verblasste. Jade hatte keine Ahnung was für eine Art von Munition sie da abfeuerte, oder wie sie abgefeuert wurde, doch nichts und niemand stand mehr auf den Beinen, wenn die Projektile einschlugen. Nein. Sie schlugen nicht ein, sondern pflügten hindurch. Weder zentimeterdicke Metallplatten noch die stärksten Polymerpanzerungen schienen ansatzweise Schutz zu bieten. Oft fielen mehrere Feinde durch nur einen Schuss und wie weit die Kugel dann noch weiterflog, vermochte niemand zu sagen.
Jade hätte lachen können. Faszination, Euphorie und Adrenalin hatten ihr die Angst genommen und sie begann dieses blutige Spektakel fast zu genießen. Für den Bruchteil eines Moments kam sie sich unbesiegbar vor. Unverwundbar. Doch dann, als es beinahe wirklich so aussah, als würde ihre notdürftige Bastion den Ansturm aufhalten können, sah Jade die Rakete heranrauschen. Es blieb nicht genug Zeit. Sie schaffte es gerade noch in entgegengesetzter Richtung unter dem Wagen hervorzukriechen, als der Tod mit eiserner Faust einschlug. Holz, Metall, Blut, Knochen und Gedärm flogen wie Konfetti durch die Luft. Die Druckwelle schleuderte Jade viele Meter durch die Luft, brach ihre Knochen und zerfetzte ihr Fleisch.
~San Francisco~
„Der Auto-Doc?“, fragte Jade und sah sich dieses merkwürdige Konstrukt aus Kabeln, Schläuchen, Greifarmen und allerlei bizarren Utensilien eine Weile an. Das Gerät stand neben einer Liege, die man in einen mit Flüssigkeit gefüllten Tank absenken konnte. Viele andere, kleinere Apparaturen und Behälter waren an die große Maschine angeschlossen. Ein wahrer Salat aus Kabeln, Lämpchen und Displays, so dass man ohne Mühe den Überblick verlieren konnte. Das ganze Ding sah aus wie dem Wahnsinn entsprungen und doch hatte es ihr nicht nur das Leben gerettet, sondern sie auch so wiederhergestellt, dass man die Schwere der einstigen Verletzungen kaum mehr vermutete. Mochte man dem Arzt glauben, so würde nach eins, zwei Wochen der Selbstheilung absolut nichts mehr auf die alten Wunden hinweisen.
„Ja, natürlich!“, strahlte der Doktor und fühlte sich offensichtlich zu einem kleinen Vortrag angestachelt. „Dieser hier ist außergewöhnlich. Vielleicht sogar einzigartig! Soweit wir wissen, war es der Prototyp einer neuen Baureihe, die kurz vor ihrer Fertigstellung stand, als die Bomben fielen. Nun ja, genaueres konnten wir den Prospekten nicht entnehmen und die Baupläne existieren wohl nicht mehr, aber ich denke so ein glanzvolles und voll funktionstüchtiges Überbleibsel der Vorkriegstechnologie sieht man nicht alle Tage! Es hat Jahre gedauert, die Funktionsweise zu erlernen. Ich übertreibe nicht, wenn ich Ihnen sage, dass Sie überall anders wohl kaum so schnell und hundertprozentig wieder genesen wären, wie bei uns.“
~Zuvor~
Jade betrachtete das merkwürdige Gewehr, das ihr McKinnon in die Hand gedrückt hatte. Ein tödliches High-Tech-Instrument aus einer Zeit voller Wunder, die sie sich nicht vorstellen konnte. Der hintere Teil mit Gewehrkolben, Griff und Abzug sah noch recht gewöhnlich aus. Der lange Lauf jedoch ähnelte einer Aneinanderreihung von runden Spulen und endete in drei länglichen Zinken, ähnlich einer Stimmgabel. Der innere Laufdurchmesser war erschreckend klein; das Kaliber schien geradezu winzig.
Jade drückte das kompakte Magazin in die Waffe bis es einrastete. Ein merkwürdiges Klacken war zu hören, dann summte es kurz, so als würde sich etwas aufladen. Neben ihr stand Logan McKinnon, eine schwere Minigun mit der einen Hand haltend, während er mit der anderen einen Munitionsgürtel in die Waffe einführte. „Lass dich nicht täuschen.“, brummte er und nickte auf Jades Gewehr. „Wo die Dinger einschlagen, lacht kein Kind mehr! Leg auf die in schwerer Kampfrüstung an. Mit der Avenger mähe ich den Rasen und du fällst mit der Gauss die Bäume, ok!?“ Jade nickte, aber im Vergleich zu dem wuchtigen Geschütz ihres Gegenübers kam ihr dieses sogenannte ‚Gauss Gewehr’ ziemlich schmächtig vor.
Dann kamen sie über den Hügel. Raider. Unzählige. Erste Schüsse zischten durch die Luft, als die Verteidiger hinter den schweren Lastenkarren Position bezogen hatten. Das letzte Luftholen vor dem großen Blutvergießen. McKinnon warf die Avenger an. Ein leises Surren erklang, welches sich innerhalb von wenigen Sekunden in ein lautes Kreischen steigerte. Immer mehr Raider tauchten auf. Es war unfassbar in welcher Masse diese menschliche Welle auf sie zuraste. McKinnon presste Zeige- und Mittelfinger gegen den roten Schalter und die Avenger begann ihre tödliche Ladung zu spucken.
„Feuer! Los! Verteidigt den Caravan !!“
~San Francisco~
„Wahrscheinlich.“, antwortete Jade. Das Gespräch begann sie anzuöden. Sie war glücklich und froh mit dem Leben davongekommen zu sein, doch die Herkunft oder Funktionsweise dieses medizinischen Ungetüms interessierten sie wenig. „Trotzdem hoffe ich, in Zukunft nicht mehr Ihre wundervolle Technik in Anspruch nehmen zu müssen.“, beendete sie den Satz und hoffte die Unterhaltung damit abzuwürgen. Sie hatte nun all ihre Sachen zusammengepackt. Zuletzt fand die Widowmaker ‚Bettie’ den Weg in ihren Rückenhalfter, dann wandte sich Jade wieder dem Arzt zu. „Danke für alles, aber ich will keine Zeit mehr verlieren. Ich konnte keine Nachricht nach Hause senden und man macht sich sicher schon Sorgen um mich. Eine Anzahlung wurde bereits geleistet. Wieviel steht noch aus?“
Der Mediziner rückte seine Brille zurecht. „Nun, natürlich. Wer würde eine so wunderschöne Frau nicht vermissen!?“ Er lächelte sie an. Es war nicht schwer die Gedanken hinter den weißen Zähnen und funkelnden Augen zu lesen. Natürlich war der Preis für diese fürstliche Versorgung astronomisch. Unter anderen Umständen hätte sie in hundert Jahren nicht ansatzweise genug Deckel auftreiben können, um die Rechnung zu begleichen. Ein ähnlicher Gedanke kam wohl auch dem Doktor, der seine eigene Lösung für dieses Problem schon ausgemalt hatte. Jade sah die Enttäuschung in seinem Gesicht, als sie die genannte Summe auf den Tisch klatschte. Sie grinste ihn an und schenkte ihm ein Zwinkern, bevor sie nach draußen eilte und ihrem Begleiter in die Arme fiel, der dort auf sie gewartet hatte.
~Zuvor~
Raider. Es war höchst selten, dass sich die vielen verfeindeten Clans und Gruppierungen zusammenrauften, doch für diese Beute lohnte sich alle Mühe. Die Nachricht von der gewaltigen Karawane hatte schnell die Runde gemacht und bereits als sie den Hub erreichte und diesen zwei Tage später wieder verließ, waren die ersten Bündnisse geschlossen und dreckige Pläne geschmiedet. Natürlich würde es nach diesem Beutezug wieder zum Zwist kommen. Alle würden sich wieder untereinander hassen und bekriegen. Jeder wusste es, doch keiner sprach es aus. Die Gier schweißte sie vorübergehend zusammen, machte sie stark und gefährlich. Wenn alle an einem Strang zogen, waren sie eine Macht, mit der man rechnen musste. Dutzende Banden hatten sich zusammengefunden und viele hundert Mann stark waren sie nun.
Die Karawane zog durch das Ödland. Über zwei Woche lang war absolut nichts geschehen, aber als am neunzehnten Tag der Späher wie ein gehetztes Tier über einen nahe gelegenen Hügel zurückgerannt kam, dauerte es nicht lange, bis sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitet hatte. Fast siebzig grimmige Söldner schützten den Caravan, doch mit dieser Flut, die da auf sie zurückte, hatte niemand gerechnet. Fliehen kam nicht in Frage. Flucht hieße, die Ware zurückzulassen. Und selbst wenn sie es schafften, dieses Niemandsland ohne Proviant zu durchqueren, hätte kurze Zeit später irgendjemand das Kopfgeld eingestrichen, welches wegen schwerem Vertragsbruch auf sie ausgesetzt worden wäre.
„Scheiße Mann, das sind zu viele!“, flüsterte einer neben ihr. Ein stämmiger Kerl mit dickem Wanst und Cowboyhut. Jade sah ihn an. Schweiß lief seine Schläfen herunter und Angst lag in seinen Augen. Die Angst zu sterben. „Was machen wir jetzt?“, rief ein anderer. „Was wir machen!?“, fiel ein dritter panisch ein. „Wir werden alle sterben! Wir werden…“ Weiter kam er nicht, denn die gepanzerte Faust eines breitschultrigen Mannes in zerkratzter Kampfrüstung brachte ihn zum Schweigen. Logan McKinnon war einer der Karawanenaufseher für diese Tour. Er war für die Sicherheit zuständig und hielt ein waches Auge auf alle angeheuerten Arbeitskräfte, denn Diebe waren keine Seltenheit, wenn wertvolle Fracht transportiert wurde. Die Aufseher standen direkt unter dem Karawanenmeister, hatten das Kommando über jeweils vier oder fünf Wagen und organisierten die Verteidigung im Falle eines Angriffs. McKinnon war von stiller Natur. Er redete nicht viel, lies aber deutliche Taten sprechen, wenn dies von Nöten war. „Klappe zu!“, knurrte er ungehalten. „Keiner verbreitet Panik und keiner versucht abzuhauen, sonst jag ich ihm ne Kugel in den Bauch! Ihr habt für diese Tour unterschrieben und ihr bringt sie zu Ende!“ Er zeigte auf ein paar Männer und brüllte ihnen Befehle zu. „Du und du da: Seht zu, dass ihr die Planen von den Karren bekommt, aber dalli! Ihr drei: Schafft mir die Kisten da runter und macht sie auf! Jeder schnappt sich etwas, mit dem er umgehen kann! Ammo ist in diesen Boxen da. Du: Kümmere dich darum, dass jeder Munition bekommt!“ Alle parierten, denn jeder wusste, dass es keine Alternative für sie gab. Die Brahminkarren wurden teilweise entladen und so zusammengestellt, dass sie eine Art Schutzwall bildeten. Die Tiere selbst blieben an die Wagen gekettet, doch versuchte man sie aus der direkten Schusslinie herauszuhalten. Es gab weder Zeit noch Platz sie anderweitig in Sicherheit zu bringen. Als fast alle Hände zu tun hatten, stapfte McKinnon umher und rief ein paar letzte Anweisungen. „Und denkt ja nicht, dass ihr das Zeug mitgehen lassen könnt, wenn die Sache hier vorbei ist! Wir haben mehrere Inventarlisten. Jeder wird gefilzt! Wer irgendwas klaut, wird ohne zu Zögern exekutiert, ist das klar!? Verbraucht Munition so viel ihr wollt, aber die Waffen gebt ihr wieder ab! Und wenn ich einen wegrennen sehe, schieß ich ihm ohne mit der Wimper zu zucken in den Rücken. Alles bleibt hier hinter diesen Karren stehen!“
Jade packte die Widowmaker in den Halfter zurück. Im Angesicht der auf sie zumarschierenden Massen erschien sie ihr wie ein Witz. Abenteuer lag ihr im Blut, aber dieses Mal hatte sie wirklich Angst nicht mehr nach Hause zurückzukehren.
~San Francisco~
„Da bist du ja.“, wurde Jade von einer tiefen, bärigen Stimme begrüßt, als sie das Krankenhaus verließ. Ohne zu antworten, lief sie auf den großen Mann zu und die beiden küssten sich in einer innigen Umarmung. „Wie war’s?“, fragte Logan, als sie nach einiger Zeit wieder voneinander abließen. „Alles gut gelaufen?“ Jade strahle ihn an. „Ja, endlich fertig. Die letzten Verletzungen verheilen von alleine. Der Doc meinte, es bleiben keine Narben oder Schäden zurück. Aber du hättest sein Gesicht sehen sollen, als ich die Rechnung bezahlt habe. Der dachte wohl ich armes Mädchen müsste mit was anderem bezahlen.“ Logan runzelte die Stirn und sah grimmig zum Hauptportal hinüber. „Vergiss es.“, lachte Jade. „Jetzt will ich nur noch schnell nach Hause.
~Zuvor~
„Hör zu Liebes, ich weiß du bist ganz versessen auf solche Touren, aber dieser Caravan führt nicht nur extrem wertvolle Waren mit sich, sondern zieht auch quer durch ungeschütztes Gebiet. Ich verwette mein Haus, dass ihr nicht ohne Probleme bis nach Frisco durchkommt!“ Greg packte seine Tochter an der Schulter und versuchte ihr ins Gewissen zu reden. Die Karawane, die gestern im Hub angekommen war, hatte etwas Besonderes. Woher sie kam, wusste kaum einer so genau, doch die nächste Route führte sie vom Hub durch das Ödland bis nach San Francisco, wo scheinbar Endstation sein sollte. Die Ladung bestand hauptsächlich aus High-End Waffen und Equipment. Die letzten großen Errungenschaften der Rüstungsindustrie, bevor die Welt in Rauch und Asche vor die Hunde ging. Schon eines dieser Vorkriegswunder war tausende Deckel wert, doch die Kisten und Boxen, welche hier auf- und abgeladen wurden, führten unzählige davon. Der Job wurde gut bezahlt; sehr gut sogar. Der Preis war allerdings angemessen, rief man sich den Wert der Ware und die damit verbundene Gefahr eines Überfalls in Erinnerung.
Jade sah hinüber zu den vielen Karren und Wagen. Sie zählte sie nicht, aber es waren mindestens fünfundzwanzig an der Zahl. Natürlich wurden wie üblich Brahmin als Zugtiere eingesetzt und überall roch es nach Vieh. Schaulustige hatten sich versammelt, um das rege Treiben neugierig zu bestaunen. Einige Männer und Frauen wuselten geschäftig umher und gingen ihren Aufgaben nach, während angeheuerte Wachen ihren Sold für die Tour hierher kassierten und in der Menge verschwanden. Im ganzen Hub wurde über die schwarzen Bretter nach Ersatz für sie gesucht. Der Lohn lockte viele und auch Jade hatte sich gemeldet. Es war offensichtlich, dass irgendwer eine Menge Geld und Aufwand in diese Tour gesteckt hatte. Sie folgte keiner der üblichen Routen und transportierte keine gewöhnlichen Güter. Der Sinn und Zweck dieser Aktion blieb Jade verborgen, ebenso welches der Caravan-Häuser dahinter stecken mochte, doch das Abenteuer juckte sie mehr denn je in den Fingern.
„Ich bin alt genug Greg.“, antwortete sie ihm in einem besänftigenden Tonfall. „Außerdem habe ich bereits unterschrieben. Du vor allen anderen solltest wissen, dass man einen Vertrag nicht einfach so bricht. Ich kann schon auf mich aufpassen.“ Greg seufzte. „Ja, du hast Recht, aber ich habe ein ungutes Gefühl bei dieser Tour. Keiner der Merchants scheint zu wissen, wer oder was dahinter steckt. Verdammt, wenn ich nicht so alt wäre und hier nicht meine Verpflichtungen hätte, würde ich dich begleiten, nur um auf dich aufzupassen.“ Jade sah den alten Herrn an und ihr wurde warm ums Herz. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und umarmte ihn. „Mach dir keine Sorgen, ich komme schon heil wieder. Jetzt muss ich aber los, die fahren bald ab. Bis bald.“ Greg Dearing nickte stumm. Jade wandte sich ab und ging ein paar Schritte, blieb dann jedoch stehen. Sie hatte das Gefühl etwas vergessen zu haben. Als sie sich umdrehte und zurückblickte, stand der alte Mann noch immer da und sah ihr hinterher. „Ich liebe dich, Dad!“, begann sie aus einer spontanen Laune heraus zu rufen und winkte ihm ein letztes Mal zu, bevor sie von der Menschentraube um den Caravan herum verschluckt wurde. Greg hob die Hand zum Abschied und kämpfte mit den Tränen. Nie vorher hatte sie ihn ‚Dad’ genannt. Nie mehr danach würde sie es tun…
~San Francisco~
„Gut, lass uns gehen.“, sagte Logan und blickte in die Ferne. Ein dunkler Schatten huschte über sein Gesicht. Zweifel überkamen ihn, doch noch lag eine lange Strecke vor ihnen. Genug Zeit die Gedanken neu zu ordnen. „Was ist?“, fragte Jade fröhlich und ergriff seine Hand. Logan sah sie an und lächelte. Es war irgendwie ein trauriges Lächeln. „Nichts. Komm her…“ Er drückte sie an sich und küsste sie.
So schwer die Verluste auch waren, letztendlich hatte man den gewaltigen Verbund der Raider in die Flucht schlagen können. Die meisten Wagen schafften den Weg nach Frisco und die Tour blieb – zumindest auf finanzieller Ebene – ein gewinnbringender Erfolg. Der Sold der Gefallenen wurde großzügig unter den wenigen Überlebenden aufgeteilt. Eine königliche Entschädigung für jene, denen das Glück hold geblieben war. Jades Anteil wurde durch die medizinische Versorgung fast vollständig aufgebraucht. Auch Logan McKinnon steuerte einen Großteil des seinen bei und hatte die erste Anzahlung geleistet, als er Jade halb tot in die Klinik getragen hatte. Beiden blieb am Ende gerade noch genug übrig, um für Proviant und eine günstige Reisemöglichkeit zurück in den Hub zu sorgen. Fast sieben Wochen waren seit dem Anfang ihrer Fahrt vergangen und weitere drei Wochen der Heimreise lagen nun noch vor ihnen. Wäre alles so gelaufen wie geplant, hätte Jade den Hub bereits vor etwa einer Woche erreichen müssen und sie fürchtete, dass sich ihr Vater große Sorgen um sie machte. Zu ihrem Unglück waren diese Ängste unbegründet, denn Greg Dearing war zu diesem Zeitpunkt bereits tot…
Kapitel 6 – Wenn Helden sterben…
Helden – Die Lüge
Wenn Helden sterben, trauert meist ein ganzes Volk um den Verlust. Klagelieder schallen durch leergefegte Straßen. Frauen, Kinder und alte Leute weinen. Männer gehen mit gesenktem Haupt, den Mut verloren. Sie alle pilgern zu den letzten Ruhestätten ihrer Hochgelobten. Schmücken die Gräber und beten um Beistand. Nie werden die Menschen sie vergessen. Ihre Denkmäler werden noch in ferner Zukunft über sie wachen und ihnen Hoffnung und Trost spenden.
Der Tod des Greg Dearing
~18:23 Uhr~
Regen prasselte gegen das Fenster. Ja, Regen. Die Tage an denen er Zeuge eines solch unglaublich seltenen Ereignisses gewesen war, hätte Greg Dearing, trotz seiner vielen Jahren auf dieser Welt, an einer Hand abzählen können. Aber niemand war draußen, um sich zu freuen, sich im kühlen Nass zu erfrischen oder es aufzufangen. Dieses Wasser brachte nur Unheil. Sauer war es. Saurer Regen, der sich durch Kleidung fraß und die Haut verätzte. Jeder, der jetzt kein Dach über dem Kopf hatte, befand sich in ernsten Schwierigkeiten. Es hieß, mit den Jahren sei der Regen milder geworden, doch auch wenn er einst selbst Blech oder Holz hatte durchlöchern können, so war er auch heute noch immer gefährlich genug, Mensch und Tier ernsthaften Schaden zuzufügen. Ein paar Tropfen abzubekommen war schmerzhaft, ungeschützt im Schauer zu stehen dagegen lebensgefährlich.
Greg sah aus dem Fenster, beobachtete die leergefegten Straßen und dachte an Jade. Wo war sie jetzt? Ging es ihr gut? Diese Fragen raubten ihm den Schlaf und sein Herz war voller Sorge. Vor vielen Tagen hätte sie bereits heimkehren sollen, doch niemand war gekommen. Nichteinmal Nachricht über den Verbleib des Caravans, mit dem sie gezogen war, hatte ihn erreicht. Nichts. Er wusste gar nichts und das quälte ihn mehr als alle bitteren Wahrheiten zusammen.
~18:57 Uhr~
Die Sonne war mittlerweile untergegangen und tiefschwarze Gewitterwolken verbreiteten eine makellose Finsternis. Der Sturm war nun direkt über ihnen. Viele, die ein solches Unwetter zum ersten Mal erlebten, befürchteten die Welt würde erneut untergehen. Donner grollte bedrohlich in der Dunkelheit, wechselte sich mit hellen Blitzen ab, die die Schwärze für einen kurzen Moment zerrissen, mancherorts in Häuser einschlugen und dort schwere Schäden anrichteten. Dazu heulte unbändiger Wind durch alle Gassen und schleuderte alles umher, was nicht in der Lage war dieser Naturgewalt zu trotzen.
„Wo immer du bist, Mädchen, ich hoffe du steckst nicht in diesem Sturm fest…“, murmelte Greg zu sich selbst und zog nach langer Zeit endlich die Vorhänge zu. Seine Glieder waren ihm schwer. Fast 48 Stunden war er nun auf den Beinen und langsam verließen ihn die Kräfte. Alle Geschäfte und Verhandlungen hatte er bis auf weiteres abgesagt und seine Gedanken drehten sich ausnahmslos um seine Tochter Jade. Irgendetwas war geschehen, das wusste er tief in seinem Innern.
Mehr gezwungen als gewollt beschloss er sich hinzulegen. Auf dem Weg in sein Schlafzimmer begegnete er Pablo, der sich in der Küche einen Kaffee gekocht hatte. Seine Schicht begann um sieben und er war gerade auf dem Weg zu seinem Posten. „Pablo, ich werde schlafen gehen.“, wandte sich Greg an den Halbspanier. „Mir geht es nicht sehr gut. Mach dir einen ruhigen Abend. Solange der Sturm tobt, wird sich keiner auf die Straße trauen.“ „Sí Señor Dearing. Ich werde Eric draußen etwas Gesellschaft leisten. Gute Nacht Señor, schlafen Sie gut.“, antwortete der Wächter und nickte dem alten Mann zu. Irgendwie sah er bekümmert aus, doch Greg, in seine eigenen Gedanken vertieft, bemerkte nicht den unglücklichen Ausdruck auf Pablos Gesicht und nahm kommentarlos die Treppe nach oben in den ersten Stock, wo er in seinen privaten Räumen verschwand. Pablo Munez ging derweil durch das große Hauptportal und trat vor die Tür. Die Frontseite des Gebäudes wurde vom Obergeschoss weitläufig überdacht, so dass keine Gefahr bestand, nass zu werden. Das große Haus hatte – wie fast alle Ruinen im Hub – nur aus einem Erdgeschoss bestanden, doch Greg Dearing hatte viel Zeit und Geld dafür verwendet, ein neues Stockwerk anzulegen und die gebotenen Räumlichkeiten zu sanieren und auszubauen. Da er selbst mit Baustoffen und Werkzeugen Handel betrieb, war die Beschaffung des Materials kein Problem gewesen und auch Arbeiter gab es im Hub mehr als genug. Das Ergebnis war eines der schönsten und neusten Häuser der Stadt, welches heute zu Gregs letzter Ruhestätte verkommen sollte…
~19:05 Uhr~
Eric Hutton stand an die Hauswand gelehnt im Freien und betrachtete den Sturm, der nur wenige Meter von ihm entfernt durch die Straßen tobte. Fast geräuschlos öffnete sich die Haustür und Pablo Munez kam aus dem Inneren herausgeschlurft. In der Hand hielt er einen dampfenden Pappbecher voller Kaffee, an dem er vorsichtig nippte. Eric zog mit gekräuselter Stirn an der Zigarette, die er sich vor ein paar Minuten angezündet hatte und atmete stinkenden Qualm aus. Wäre es nicht so windig gewesen, hätte Pablo ein Dutzend Zigarettenstummel auf dem Boden liegen sehen, doch diese waren bereits alle davongeweht worden, obwohl diese Stelle noch recht geschützt lag und hier relativ wenig von den heftigen Böen zu spüren war.
„Wo ist er?“, fragte Eric seinen Kollegen, ohne ihm ins Gesicht zu sehen. „Nach oben.“, bekam er zur Antwort. „Er sagte, es ginge ihm nicht gut und er wollte schlafen gehen.“ Hutton nickte stumm. Er war der erste von Gregs Angestellten gewesen. Im Laufe der Jahre wurde er zu einer Art ‚Rechten Hand’ für seinen Boss und hatte alle anderen Wachleute und Angestellten unter sich. Die einzigen, die ihm hier etwas zu sagen hatten, waren der alte Dearing selbst und seine Tochter Jade, zu der er ein freundschaftliches Verhältnis pflegte.
„Der Sturm kam aus dem Nichts, ich glaube nicht, dass sie sich heute blicken lassen.“, murmelte Pablo und nahm einen weiteren Schluck aus dem Becher. „Diese gottverdammten Wichser…“, brummte Eric barsch. „Hoffentlich hat der Schlag sie getroffen. Aber es ist noch viel zu früh. Wer weiß, ob der Sturm die ganze Nacht so weitertobt.“ Er spuckte die Kippe aus, die sofort, vom Wind getragen, in der Dunkelheit verschwand. „Komm.“, sagte er dann zu dem Latino. „Gehen wir rein. Von der Küche aus haben wir einen guten Blick nach draußen. Wir pokern ne Runde und warten, ob noch etwas passiert.“
~22:42 Uhr~
Immernoch trommelte der Regen gegen die Fenster und immernoch blitzte, donnerte und stürmte es durch den Hub. Eric und Pablo saßen seit Stunden in der Küche und versuchten die Zeit totzuschlagen, während Greg den unruhigen Schlaf der Erschöpften schlief. Er hatte sich in voller Montur hingelegt und war rasch eingeschlafen. Nur seine Stiefel standen vor dem Bett und die Deagle hatte er, wie es seine Gewohnheit war, in Griffweite auf den Nachttisch gelegt. Er selbst lag auf dem Rücken. Seine Augen waren geschlossen, doch sie bewegten sich. Er träumte.
Greg lief durch muffige Kellergewölbe. Die alte Petroleumlampe, die er trug, war alles, was die dicke Schwärze hier unten einige Meter zurückweichen ließ. Kein Laut war zu hören, doch ein modriger und leicht süßlicher Gestank war allgegenwärtig. In diesem ‚Loch’ lauerte der Tod. Greg bog um eine Kurve und kam in einen breiten, langen Korridor, dessen Ende in der Finsternis nicht auszumachen war. Zu beiden Seiten waren, in regelmäßigen Abständen, schwere Stahltüren in die Wände eingelassen. Der Gestank wurde intensiver. Er trat an die erste Tür und öffnete mit der freien Hand den Sehschlitz, der auf Augenhöhe in den Stahl eingearbeitet war. Mit der anderen Hand hob er die Lampe hoch und sah in den angrenzenden Raum. Ein dürres, ausgemergeltes Etwas lag dort im Schmutz. Ein Kind. Greg stellte sein Licht auf den Boden und öffnete mit beiden Händen die massive Tür. Krächzend schwang sie auf und er trat in die kleine Kammer. Das Kind, ein Mädchen, war tot. Stumm starrten ihre leeren Augen an die Decke. Ihre verkrusteten Lippen waren trocken wie Sand, die Haut wie dünnes, fast durchsichtiges Pergament straff über die zierlichen Knochen gespannt. Man konnte deutlich jede einzelne Rippe ausmachen. Der Zustand ihres Körpers ließ Greg erahnen, wie lange und qualvoll ihr Kampf gegen das Dahinscheiden gewesen sein musste. Voller Kummer und Zorn schloss er der armen Seele die Augen. Sie waren grün, grün wie Jadesteine. Er war zu spät gekommen.
~23:54 Uhr~
„Gleich Mitternacht.“, seufzte Eric und warf seine Kippe in den noch halbgefüllten Kaffeebecher. „Falls sie wirklich kommen, ist es gleich soweit. Geh nach oben zum Boss und schau nach ihm. Ich geh schonmal vor die Tür.“ „Ich soll zum Boss hoch? W-Was ist, wenn er wach ist?“, stotterte der Spanier aufgeregt. „Keine Ahnung. Tisch ihm irgendwas auf. Denk dran: Sein Arsch oder unserer!“ Damit stand Eric auf und löschte das Licht im Zimmer. Er ging nach draußen, während Pablo sich auf den Weg ins obere Stockwerk machte. Der Sturm war fast vorübergezogen. Zwar regnete es noch immer, doch weniger stark. Der Wind hatte nachgelassen und nur noch ab und zu hörte man es gewittern. Ein heller Vollmond durchbrach die dicke Wolkendecke, gab den Blick frei auf die verwaisten Straßen. Eric Hutton starrte in die Dunkelheit, die Hände zu Fäusten geballt. Ein paar Minuten stand er da, doch nichts war zu sehen. Dann schwang die Haustür auf und Pablo Munez trat neben ihn. „Er schläft…“, meinte der Latino knapp. Eric nickte. Die beiden warteten. Plötzlich regte sich etwas…
~00:07 Uhr~
Vier dunkle Gestalten stapften durch den Regen und hielten direkt auf das Haus zu. Sie waren vollkommen in lange Regenmäntel gekleidet, die bis kurz über den Boden reichten. Die Köpfe unter weiten Kapuzen verborgen, die Gesichter verhüllt. Schwere Gummistiefel und Handschuhe komplettierten das Bild. Zwei der vier trugen große Taschen. Waffen, sofern sie welche mit sich führten, doch davon war auszugehen, blieben unter der Schutzkleidung verborgen. Ihre Mäntel schimmerten im Mondlicht. Sie waren aus einer Art Kunststoff, dem das saure Nass scheinbar nichts anhaben konnte und ohne Schaden anzurichten perlten die Tropfen an ihnen ab. Schließlich erreichte das Quartett das Grundstück Dearings. Niemand hinderte sie, als sie es betraten, denn der Hof war unbewacht und das Tor nicht verschlossen.
„Verdammt!“, murmelte Eric zu sich selbst. „Der alte Mann war wie ein Vater für mich und jetzt ramme ich ihm ein Messer in den Rücken.“
Die vier kamen vor Pablo und Eric zum stehen. Winzige Rauchwölkchen dampften, wo dicke Tropfen von den Mänteln glitten und auf dem trockenen Boden ihr Ende fanden. „Einen wunderschönen guten Abend die Herren.“, sprach eine unangenehme Stimme, die kaum einzuordnen war. „Wie ich sehe, haben Sie bereits auf uns gewartet. Schön. Berichten Sie…“ Eric übernahm das reden, während der Latino Pablo nur nervös dastand und mit der Zunge seine Zähne umspielte, wie immer, wenn er aufgeregt war. „Alles wie besprochen. Nur noch Pablo und ich sind auf dem Grundstück. Die anderen habe ich heute Nachmittag fortgeschickt. Dearing hat keinen Verdacht geschöpft. Sie haben ihren Anteil genommen und die Stadt sicher bereits verlassen. Der Boss liegt oben in seinem Zimmer und schläft. Die Treppe hoch, dritte Tür rechts.“ „Gut. Sehr gut. Was ist mit dem Mädchen?“, fragte die schwarze Gestalt. Das Schmunzeln, welches die Lippen seines Gegenübers umspielte, konnte Eric nicht sehen, ebensowenig wie die kalten Augen, die ihn fixierten. Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Sie ist vor Wochen mit einem Caravan nach Frisco abgezogen und hätte seit Tagen wieder zurück sein müssen. Irgendwas muss passiert sein, der Boss macht sich deswegen große Sorgen.“ „Ein Caravan nach Frisco!?“, kam es wieder unter der Kapuze hervor. „Verstehe. Wirklich ein Jammer um das süße Ding. Ich hätte sie wirklich gerne… kennengelernt.“ „Sie wissen etwas!? Was ist da passiert?“, fragte Eric. „Wir sind nicht hier, um Ihre Fragen zu beantworten, Mister Hutton.“, zischte der Vermummte und gab mit zwei Fingern ein Zeichen. Einer seiner Begleiter trat hervor und stellte eine der großen Taschen auf den Boden. Sie war mit einer Art Plane umwickelt, scheinbar aus demselben abweisenden Material wie die Mäntel der vier. Zwei zusammengefaltete Bündel wurden ausgepackt. Der Unbekannte warf Pablo und Eric je eines davon zu und der Anführer ergriff wieder das Wort. „Wir haben zwei Regencapes für Sie mitgebracht. In der Tasche befinden sich außerdem noch die 6000 Deckel, die man Ihnen als Restzahlung versprochen hat. Einer meiner Kollegen wird jetzt mit mir hinein gehen, während die anderen beiden hier eine Weile auf Sie aufpassen. In der Zwischenzeit bitte ich Sie die Capes anzulegen und sich bereitzuhalten. Wenn wir wiederkommen und alles zu unserer Zufriedenheit abgewickelt ist, können Sie gehen.“ Der Mann nickte einem seiner Männer zu und sie stapften an Eric und Pablo vorbei und betraten das Haus. Die beiden Wachmänner mühten sich derweil unter den aufmerksamen Augen der Aufpasser in die Regenkleidung.
~00:13 Uhr~
Im Haus war alles still. Zwei dunkle Gestalten huschten wie Geister durch die Schatten und näherten sich der Treppe zum ersten Stock. An deren Fuß blieb die eine stehen, während die andere sie lautlos zu erklimmen begann. Oben angekommen schlich sie zielsicher nach rechts und öffnete leise die dritte Tür zum Schlafzimmer Greg Dearings. Dieser lag noch immer in unruhigem Schlaf. Der dunkle Besucher trat an das Bett heran. Noch immer tropften kleine Wasserperlen von seiner plastikähnlichen Kleidung. Es zischte leise, wenn diese auf den Teppichboden fielen, doch das Geräusch ging in dem Geprassel der an die Scheibe klatschenden Regentropfen unter und blieb ungehört. Die Gestalt sah die große Pistole auf dem Nachttisch liegen. Eine Desert Eagle .44er Magnum. Sie griff danach und betrachtete die Waffe im Schein des einfallenden Mondes. Ein schönes Stück. Alt, aber wunderbar erhalten. Die mitgeführte, schallgedämpfte Glock blieb verborgen. Stattdessen spannte der Killer den Hahn der Deagle und richtete sie auf Greg Dearings Stirn. Ein Grinsen umspielte die Mundwinkel des Phantoms. Mit eiskalten, wahnsinnigen Augen sah es sein Opfer an.
„Welch Ironie des Schicksals, durch die eigene Waffe zu fallen, nicht wahr Mister Dearing!?“, säuselte es kaum hörbar unter der Kapuze. In der Ferne blitze es auf. Der Killer wartete ruhig auf den Donner…
In diesen letzten Sekunden träumte Greg Dearing von einer der vielen Schlachten, denen er beigewohnt hatte. Unzählige Verbrecher, Slaver und Raider waren durch seine Hand gefallen. Unzähliges Blut war durch seine Hände geflossen. Ein Kämpfer und Krieger war er gewesen. In seinem Ermessen stets für das Gute gekämpft, hatte dennoch so manch Unschuldiger durch ihn den Tod gefunden. Aber was bedeutete das Wohl eines Einzelnen gegen das Wohl von Vielen!? Er stand auf dem Schlachtfeld. Allein. Tote Kameraden zu seinen Füßen: Bettie, Thomas, Janson und unzählige andere… Der Feind stürmte aus allen Himmelsrichtungen heran. Laut donnerte die Widowmaker. Blut spritze, Leben erlosch. Greg lud das Gewehr nach. Er spürte, dass sich ihm jemand von hinten näherte. Er hörte die Schritte schwerer Stiefel, wie sie im Matsch versanken. Wild wirbelte er herum und schoss blind, einen Kampfschrei in der Kehle und Hass in den Augen. Die Person, keine zwei Meter von ihm entfernt, war eine junge Frau. Sie hielt sich den blutenden Bauch und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Ihre Augen. Grün funkelten sie. Ein Jadegrün, das Gregs Herz durchbohrte. „Nein!“, schrie er. „NEIN !!“
Eine Träne entfloh dem geschlossenen Auge des alten Mannes, rann seine Wange hinab und träufelte in das weiche Kissen, auf dem sein Kopf ruhte. „Nein.“, wisperte er im Schlaf, scheinbar von schlimmen Träumen geplagt. „Nein.“ Draußen donnerte es und mit dem Donner ertönte der Schuss. Gregs Stirn platze auf und die Kugel bohrte sich durch seinen Schädel. Blut durchtränkte das Kissen. Ein letzter Atemzug verließ die Lungen des alten Kriegers, der zum liebenden Vater geworden war, und beendete sein Dasein auf dieser Welt. Der Tod kam schnell und ohne Schmerzen, doch nicht so, wie er ihn sich immer vorgestellt hatte. Kein ruhmreicher Abgang in der Schlacht. Kein friedvolles Dahinscheiden, die Hand der Tochter haltend. Ein schmutziger Mord beendete es. Verraten hatte man ihn. Wehrlos aus dem Weg geräumt…
~00:15~
Der Mörder verließ ruhigen Schrittes das Schlafzimmer und stieg die Treppe hinab. „Was ist los?“, flüsterte die Gestalt, die unten gewartet hatte. „Was war das für ein Schuss? War der Alte wach?“ Der Anführer klopfte seinem Kumpanen beruhigend auf die Schulter. „Nein, alles bestens. Nur eine spontane Planänderung, die ich für recht amüsant hielt.“ Die beiden durchquerten das Erdgeschoss und kehrten ins Freie zurück. „Nun Mister Hutton, Mister Munez, Sie haben Ihr Wort gehalten, wir halten das unsere. Die Sache ist beendet, Sie können gehen. Ich rate Ihnen die Stadt schnell zu verlassen und Stillschweigen zu bewahren. Glauben Sie mir, Sie würden es bereuen uns in den Rücken zu fallen. Ach… und Mister Hutton: Bestellen Sie Ihrer Frau und Sohn schöne Grüße von mir.“ Huttons Blick war finster, doch er antwortete nicht. Wie gerne hätte er diesem Bastard den Hals herumgedreht, doch ihm waren die Hände gebunden. Die Liebe zu seiner Familie hatte ihn zum Verräter werden lassen. Er schämte sich seiner selbst und würde nie wieder einen Fuß in diese verfluchte Stadt setzen. Der Killer konnte sich ein amüsiertes Kichern nicht verkneifen, doch ohne Vorwarnung wechselte seine Stimmung wieder. „Beeilen Sie sich.“, sprach er, nun wieder völlig humorlos. „Der Sturm kam unerwartet, doch keinesfalls ungelegen. Kaum einer wird Notiz von Ihnen nehmen, die Straßen sind wie ausgestorben.“ Pablo packte die mit Deckeln gefüllte Tasche und griff mit der freien Hand nach Erics Arm. „Komm Eric, wir verschwinden jetzt! Komm, komm!“ Wut und Verzweiflung glomm in Eric Huttons Augen. Widerwillig ließ er sich davonziehen und die beiden Verräter verschwanden schnellen Schrittes in der Nacht.
Der Killer wandte sich ab und seinen drei Begleitern zu. „Sputen wir uns. Noch sind wir hier nicht fertig.“ Einer der vier brachte die zweite Tasche zum Vorschein. Der Inhalt wurde unter allen verteilt. Sie betraten das Haus und brachten den Job zu Ende…
~00:30 Uhr~
Der Regen hatte nun fast aufgehört. Noch immer wagte sich niemand auf die Straße und alles war still, als plötzlich eine gewaltige Explosion die Hights erschütterte. Greg Dearings Anwesen – oder besser das, was nach dem lauten Knall noch davon übrig geblieben war – stand innerhalb von Sekunden in Flammen und brannte ungehindert bis auf die Grundmauern nieder. Seine Lagerräume und Waren wurden vollständig vernichtet. Alles was er sich in vielen Jahren der harten Arbeit aufgebaut hatte, verwandelte sich binnen Minuten zu Ruß und Asche.
Später, als der Regen vollständig abgeklungen und die Polizei erschienen war, gab es bereits nichts mehr zu retten. Alle Hinweise, hatte es je welche gegeben, waren verwischt und in dem Brand verloren gegangen. Im Nachbargebäude, den Unterkünften der Wachleute Dearings, hätte man drei Leichen finden können, wäre auch dieses Haus nicht den Flammen anheim gefallen. Es waren jene Männer, die sich nicht hatten schmieren oder einschüchtern lassen. Ihre Treue wurde mit dem Tod belohnt. Die Leiche Dearings wurde ebenfalls nie gefunden, doch hatte man ihn gegen Mittag in sein Haus gehen und es bis zum Ausbruch des großen Sturmes nicht wieder verlassen sehen. Stattdessen waren viele seiner Angestellten am Nachmittag auf dem Market gesichtet worden. Das ganze stank so gewaltig nach einer Verschwörung, dass selbst die einfältigsten unter den Dummen nicht an einen Unfall glaubten. Doch Dearings Leute waren nicht mehr aufzutreiben. Niemand wusste etwas oder machte den Mund auf. Der Fall blieb ungelöst und wanderte schnell zu den Akten. Mit der Zeit wuchs Gras über die Geschichte und keiner außer einem einzigen Menschen scherte sich bald mehr darum.
Helden – Die Wahrheit
Wenn Helden sterben, sterben sie meist allein. Es gibt keine Klagelieder, keine Denkmäler, nichteinmal Blumen oder Gebete. Die Menschen weinen nicht um sie und die Erinnerung an sie wird verblassen. Hoffnung und Trost sind die Träume einer Saat, die niemals aufgehen wird, in einer Welt, die bereits im Sterben liegt. Helden sind jene, die sich aufopfern. Doch ihr Tod ist umsonst, denn die Ideale für die sie leben, sind der Grund warum sie sterben.
Fortsetzung folgt…
Autor: Cerebro