Die Reise

Irgendwo im Osten Nordkaliforniens, 17.27 Uhr

Lin Huiyen wurde schlecht. Sie verfluchte sich dafür, dass sie sich nicht selbst ans Steuer gesetzt hatte und stattdessen einen der halbirren Zwillinge die schrottreife Kiste mit dem noch schrottigeren Wohnwagen im Schlepptau fahren ließ. Genau in diesem Moment erwischte der Wagen ein Schlagloch und schüttelte die Fahrzeuginsassen gut durch. Es war früher Abend, doch das bedeutete nicht, das man auf der Motorhaube ihres lädierten Geländewagens nicht immer noch mühelos rohe Eier hätte braten können. Mittlerweile fühlte sich die Asiatin selbst wie ein gekochtes Ei. Die Hitze war schier unerträglich und ließ sie den Schweiß in Strömen aus allen Poren schwitzen. Dass es den anderen nicht anders erging, verbesserte ihre Lage nicht unbedingt, denn verschwitzte, ungeduschte Männer rochen irgendwie überall gleich. Mit einem lauten Seufzen kurbelte sie das halboffene dreckige Fenster hinunter und schaute in die Ferne. Vor ihr lag ein riesiger Haufen von Nichts, abgesehen von Sand und Steinen. Der Wagen gab während er seit einer Weile fuhr einige seltsame Geräusche von sich, so auch jetzt.
Ob er noch so lange durchhält, bis wir wenigstens die nächste Stadt erreicht haben?
Sie bezweifelte es.

Die junge Shi blickte neben sich, als sie von einem der Jungs angestoßen wurde. „Hey, was…“ Sie hob eine Braue.
Na toll, eingepennt.
Ohne sonderliches Fingerspitzengefühl schubste sie ihren Kameraden leicht in die entgegengesetzte Richtung, damit er ihr nicht die Schulter vollsabberte. Ungläubig musterte sie seine Rüstung und fragte sich, wie er es bei dieser Hitze aushielte seine volle Kampfmontur zu tragen, inklusive Helm und idiotischerweise auch samt seiner Skimaske. War sie denn die einzige, die wegen den Temperaturen an die Decke gehen könnte? Lin dachte darüber nach. Als sie von ihrem Halbbruder auf eine „kleine Reise“ verschleppt wurde und mit seinem…oder ihrem Stamm durch das Ödland zog hatte sie anfangs fast geheult. Sie schätzte die chinesische Küche und konnte sich mit dem, was man als Wilder unter Essen verstand, anfangs gar nicht anfreunden. Oder was die anderen Dinge betraf, die sie trotz ihres bescheidenen Lebens eigentlich selbstverständlich nannte. Klopapier. Klimaanlagen. Regelmäßiges Duschen. Kühle, saubere Schlafzimmer.
Und…Betäubungsmittel bei Arztbesuchen. Die dunkelblonde Halbchinesin musste sich schütteln, als sie daran zurückdachte, wie sie eines Tages dem Zahnarzt ihres Dorfes bei seiner Arbeit zusah.

Gelangweilt blickte sie wieder nach draußen und versuchte das laute Schnarchen ihres Sitznachbarn zu ignorieren. Während sie ein abseits von der „Straße“ halb im Sand begrabenes Gerippe anstarrte, als wäre es etwas Ungewöhnliches, zupfte sie an ihrem T-Shirt, welches eng an ihrer Haut klebte. Wäre sie auf ihrem Sitz nicht von den beiden anderen so zusammengequetscht gewesen und sich sicher, die Jungs würden über ein Mindestmaß an Anstand verfügen, sie hätte sich einfach luftiger angezogen…aber nein…

Erschrocken fuhr sie zusammen, als Zwilling B auf dem Beifahrersitz einen erstaunten Schrei von sich gab und mit dem ausgestreckten Arm vor ihnen in die Ferne deutete. Er hatte sich mit einem Fernrohr bedenklich weit aus dem Fenster gelehnt, um als Erster die nächste Siedlung zu erspähen. „Was’n?“ Murmelte Martin schläfrig neben ihr unwillig und gähnte laut. „Da hinten ist ein herrenloser Anhänger!“ Meldete Outlook mit einer immer noch viel zu lauten Stimme. Mit einem Schlag wurden alle wach und versuchten etwas zu erkennen. Tatsächlich fuhren sie geradewegs auf einen weißen, stark verrosteten einsamen Anhänger zu, über den eine Plane aus türkisem Plastik gespannt war.
Wahrscheinlich hat ihn ein Caravan verloren…
Mutmaßte die Shi und blinzelte. Martin angelte sich seine Uzi aus dem Fußraum und setzte sich aufrecht hin. „Tja, Glück für uns, Pech für die Trottel, die ihn verloren haben.“ Meinte er unter seiner Skimaske grinsend und wartete geduldig, bis Eject den Geländewagen anhielt.

Auch Lins Bruder Eto war auf den Anhänger aufmerksam geworden, war aber weitaus weniger erfreut als der Maskenmann. „Müssen sein vorsichtig, vielleicht versteckte Falle von jemandes. Oder Nahrung darin, die verseucht…“ Gab er zu bedenken und bremste den Eifer seiner Gefährten. Lin wusste, was er meinte. Unterwegs hatten sie schon verdammt viel Scheiße erlebt, um es mit Martins Worten auszudrücken. Sie öffnete mit einem unguten Gefühl in der Magengegend die Tür und stieg aus, nachdem sie an ihr Schwert gedacht hatte. Es war das Abschiedsgeschenk ihres ehrwürdigen Meisters Dan Chen, der ihr zusammen mit seiner Ehefrau eine Ausbildung der exklusiveren Art hat zukommen lassen. Die Shi streckte sich draußen ausgiebig und ging dann zusammen mit den anderen auf den verdeckten Anhänger zu. Nur die Zwillinge blieben im Wagen und hielten die Stellung. Jlim…oder Jim, sie wusste nicht mehr, wie der Neue genau hieß – erreichte das alte Ding zuerst und riss mit gespannter Miene die Plane herunter. Nachdem er sah, was sich darunter befand, pfiff er durch die Zähne und stieß ein „Geil!“ aus. „Leute, hier liegt alles. Medizin, Muni, Dosen…“ Weiter kam er nicht. Ein lauter Knall zerriss die Luft und veranlasste die verschreckte Shi, sich zum Wagen umzudrehen. Doch mit dem Fahrzeug war augenscheinlich alles in Ordnung. Slim gab ein leises Stöhnen von sich und fasste an seine Brust. „Fuck…“ Ungläubig schaute er auf seine blutigen Hände und sackte langsam auf die Knie.

Von einer Sekunde auf die andere peitschten sirrende Kugeln durch die Luft und prasselten gnadenlos auf sie ein. „Wir werden angegriffen!“ Schrie Martin überflüssigerweise und entsicherte seine Waffe. „Verteilt euch!“ Aus dem Wohnwagen kamen gedämpfte Flüche. Eine Klospülung wurde aktiviert, dann schwang die Tür auf und zwei bewaffnete junge Männer traten heraus. Die Gruppe von Raidern, die den Hinterhalt legte, nahmen die Reisenden jetzt unter schweren Beschuss. Eine Granate explodierte in der Nähe der jungen Shi, die sich mit einem Hechtsprung aus der Gefahrenzone rettete. Sand und trockene Erdbrocken wurden brutal aufgewirbelt und verhinderten für einen Augenblick die Sicht. Benommen richtete sie sich auf und fasste sich an ihr Ohr, da die Geräuschkulisse kurzzeitig einem leisen Fiepen weichen musste. Von irgendwo her schoss ein Sniper auf den Wagen. Zuerst zersplitterte die Frontscheibe, dann beschädigte eine weitere Kugel ihren Wassertank. Krachend schlugen nacheinander in kurzem Abstand weitere Geschosse in den Motorraum ein und stanzten kleine Löcher in die Motorhaube. Zu allem Überfluss wurde unter dem Beschuss ein Vorderreifen perforiert, aus dem innerhalb kürzester Zeit mit einem Zischen alle Luft entwich. „Hurensöhne!“ Kam es gepresst von einem der Zwillinge und kletterte eilig mit seinem Bruder hinaus. Während dieser ihm Feuerschutz gab, versuchte er hektisch das Loch im Tank abzudichten, aus der wie aus einer Wunde beständig neues Wasser quoll und vergeudet auf den heißen Wüstenboden verdampfte.

Martin durchlöcherte die Brust eines wild gestikulierenden und schreienden Raiders, der mit einem Speer auf sie zu gerannt kam und schwenkte danach mit einer mechanischen Bewegung auf einen anderen um. Die Shi hatte bereits ihr Schwert gezogen und umrundete leichtfüßig einen breitschultrigen Banditen, der in seinen Händen eine stachelbewehrte Keule schwang. Er holte aus und ließ die Waffe mit einem gewaltigen Hieb auf den vertrockneten Boden aufkommen. Geschickt wich die Chinesin mit einer Rückwärtsrolle aus und griff sich eine Handvoll Sand mit der linken Hand. Der wütende Raider kam auf sie zu und verdeckte rechtzeitig mit seinem freien Arm die Augen, als sie den Sand in Richtung seines Gesichts warf. Fluchend trat sie rückwärts laufend den Rückzug an, während der Mann erneut ausholte – und vor Schmerz zusammenzuckte. Ein fingergroßes Loch hatte sich in sein Bein gebohrt und gab Lin die Gelegenheit, zum Gegenschlag auszuholen. Sie wich einem erneuten, diesmal unbeholfenen Hieb des zähen Raiders aus und stach ihm das Ende ihrer Waffe tief in den Hals. Gurgelnd ging er Boden und versuchte krampfhaft, seine Wunde zusammenzupressen. Als Nächstes kam sie Jake zur Hilfe. Der drahtige Afroamerikaner hatte seine leergefeuerte M3 weggeschmissen und beharkte seinen Gegenüber mit einem Schlachterbeil in der Linken und einer Harpune in der Rechten. Die Shi öffnete den Verschluss ihres Gürtelholsters und zog im Rennen mit der freien Hand eine Beretta hervor. Präzise feuernd setzte sie zwei weitere anrückende Raider außer Gefecht und verschaffte Jake genügend Ablenkung, um seinen Gegner auszuschalten.

Lin konnte ihren Arzt nirgendwo entdecken. Hoffentlich hat er sich wenigstens in Sicherheit gebracht… Ein einzelner Schuss schlug direkt neben ihrem Fuß ein. Hastig sah sie sich nach dem Schützen um und erkannte dann einen Raider, der sich flach auf den Boden gelegt hatte und gerade damit beschäftigt war, sein Magazin zu wechseln. Mit einem Schrei stürmte sie auf ihn zu, während er unter lautem Fluchen hektisch versuchte, das verbleibende Magazin in sein Gewehr zu stopfen. Zu langsam. Chaos brach unter den Banditen aus, denn mit so starkem Widerstand hatten sie nicht gerechnet. Lins Halbbruder schlug mit bloßen Fäusten einen der Männer zu Boden und brach ihm mit reiner Muskelkraft unter einem widerlichen Knacken das Genick. Der Sippling tastete die Leiche ab, nahm dieser sein Messer ab und konzentrierte sich auf die Überlebenden, auf der er mit lautem Kriegsgeheul zustürmte. Aus den Augenwinkeln konnte die Shi Nikolai dabei beobachten, wie er mit einem überheblichen Lächeln einem auf den Boden liegenden verwundeten Raider seine Schrotflinte gegen den Kopf hielt und den Zeigefinger am Abzug bewegte. Sogleich wendete sie sich ab – und duckte sich, als mehrere Kugeln in ihre Richtung flogen. Mit erhobenem Schwert verringerte die geduckte Frau den Abstand zwischen ihnen mehr und mehr und versetzte ihren Feind damit in Panik. Wild feuernd stolperte er zurück und die Shi hörte verwundert, dass etwas Metallisches wie Glas zersplitterte. Die Distanz schmolz wie Schnee in der Sonne. Das Adrenalin in ihrem Blut schien zu pulsieren und ihr einziger Gedanke war: Mein…Schwert?

Rasend vor Wut verzerrten sich ihre Gesichtszüge. Ihr schmalen Augen blickten für einen Sekundenbruchteil in das verängstigte Gesicht des Raiders…dann holte sie aus und schnitt diagonal durch Leder, Haut, Fleisch, Knochen…Immer wieder hieb sie mit dem zerbrochenen Schwert auf den frischen Kadaver ein, mit dem Schwert, das die Beendigung ihrer Ausbildung symbolisierte, mit der Waffe, die ein Teil von ihr werden sollte. Blutgebadet marschierte sie auf die beiden letzten übrig gebliebenen Raider zu, die ihre Waffen fallen ließen und sich mit erhobenen Händen ergaben. „Wir ergeben uns, der Krempel gehört euch, okay? Wir werden jetzt einfach gehen und euch in Ruhe…?“ Lin pumpte ohne mit der Wimper zu zucken das restlichte Magazin ihrer Beretta in seinen Bauch und versetzte dem keuchenden Mann einen Tritt gegen die Brust, sodass er blutüberströmt nach hinten kippte. „Scheiße, was macht ihr da?!“ Brüllte der letzte Raider fassungslos und starrte sie entsetzt an. „Wir ergeben uns doch, wir…“ Als er ihren Gesichtsausdruck sah, verstummte er sofort. Die zierliche Shi hatte sich von einem Augenblick zum anderem in einen zornigen Dämonen verwandelt.

Auch die anderen Gruppenmitglieder hielten bedrückt Abstand, bis auf Nikolai. Der brünette Schönling verfolgte das Schauspiel seiner Kameradin mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen. Lin packte den Raider am Kragen und hielt ihm das zerstörte Schwert vor die Nase. „Was ist das?“ Fragte sie mit einem seelenruhigen und doch eiskalten Ton. „Äh, e-ein kaputtes Schwert?“ Stotterte der junge Raider verdutzt. Die Shi nickte und wirkte nachdenklich. „Unser Fortbewegungsmittel…“ Sie deutete auf die zerschossenen Überreste ihres Fahrzeugs. „…Habt ihr auch verschrottet.“ Stellte sie mit falscher Unbeschwertheit fest. „Nein, warte! Das war ein Versehen, ich…“ Dann fing er hemmungslos an zu schluchzen. „Jetzt heul nicht rum, zieh dich lieber aus!“ Beruhigte sie den Feigling. „Wa-was?“ Fragte er entgeistert und schniefte. Er hatte fest gerechnet, jeden Augenblick sterben zu müssen. „Du gibst mir deine Sachen und ich lasse dich laufen. Klingt das nach einem fairen Deal? Ich kann dich auch gerne der Länge nach…“Ne-nein, alles was Sie wollen, Miss…äh…“ Er löste einige Gurte und Bänder, bis er schließlich kurze Zeit später in Unterwäsche dastand und seine Habseligkeiten in den Armen hielt. Die Shi winkte den Sippling heran, der schweigend die Lederrüstung und die wenigen Dinge aus seinen Taschen annahm.

Der Raider wirkte beinahe erleichtert. „Und jetzt, ähh…zur nächsten Stadt, ins Gefängnis, oder?“ Fragte er rhetorisch und blickte die Shi aus naiven Augen an. „Falsch, Kleiner.“ Stattdessen schlug sie ihn mit dem Griff ihrer Waffe bewusstlos und ließ ihn achtlos liegen. Auf Martins nicht gestellte Frage antwortete sie: „Sollen ihn doch die Radskorpione auseinander nehmen, der Mistkerl ist mit seinen Freunden daran schuld, das wir jetzt zu Fuß weiterlaufen dürfen.“ In der Zwischenzeit war der junge Arzt wieder aufgetaucht und sah nach ihrem verletzten Kameraden. Als sie mit fragender Miene auf ihn zuging, schüttelte er nur niedergeschlagen den Kopf und platzierte Jlims Leichnam so, als würde er nur schlafen.
Nikolai holte ein buntes Stofftaschentuch hervor und säuberte sich sein ansehnliches, jetzt jedoch mit fremdem Blut besprenkeltes Gesicht. „War das ein Spaß.“ Meinte er leichthin und lud sein Gewehr anschließend durch. Lin verstaute wortlos die kläglichen Überreste ihrer Waffe in die handgefertigte und kunstvoll verzierte Schwertscheide und behielt ihre Meinung zu dem Thema für sich. In der Gruppe herrschte unangenehmes Schweigen. Sie begruben den Gefallenen, teilten das verbliebene Wasser unter sich auf, sammelten die unbeschädigten Waffen und findbaren Wertgegenstände ein und bedienten sich reichlich aus dem Inhalt des Anhängers.

„Wenn hier Raider unterwegs sind, wird es wahrscheinlich auch irgendwo ganz in der Nähe eine Stadt geben. Das schaffen wir schon noch. “ sagte Martin nach getaner Arbeit zuversichtlich und schirmte mit der Hand die Sonne ab, um in die Ferne zu sehen. „Wir sollten am Besten jetzt gleich wieder aufbrechen, damit wir unterwegs etwas von den kühleren Temperaturen haben.“ Alle waren mehr oder weniger damit einverstanden jetzt schon weiterzumarschieren und setzten sich mit schwerem Gepäck in Bewegung, nach Osten…

Autor: Jessica