Klassiker der Science-Fiction zu lesen ist stets eine vergnügliche Sache, auch wenn diese Klassiker eigentlich neueren Datums sind. Neuromancer, eines der wenigen Sciene-Fiction Bücher, dessen Autor so etwas wie das Internet vorausgesehen hat, ist ein solcher neuerer Klassiker. Erschienen im Jahre 1984, in Deutschland drei Jahre später, ist Neuromancer der erste Teil einer gleichnamigen Trilogie, hat mehrere Preise abgeräumt und gilt als Startschuss des ‚Cyberpunk‘-Genres. Am bedeutendsten ist wohl Gibsons Erfindung des Cyberspace, der auch in den alltäglichen Sprachgebrauch einziehen konnte und hier seinen ersten literarischen Auftritt hat.
Neuromancer spielt Jahre in der Zukunft, Ost und West haben sich einen Atomkrieg geliefert, Bonn ist ein mit Schutt versiegelter radioaktiver Krater und Kommunist wie Klassenfeind hindert dieses kleine Intermezzo nicht daran, weiterhin mit Waffen aufeinander zu zielen. Die Welt wird beherrscht von Militärs, korrupten Regierungsmitgliedern und Superkonzernen. In einer riesigen Raumstation im Weltall vergnügen sich Touristen und Superreiche, während Terroristen, Yakuza und Superkorrupte sich einen ständigen Kampf um Macht liefern. Unser Protagonist Case sitzt in Chiba City in Japan und lebt ein Leben als Kleinkrimineller. Ehemals ein bedeutender Hacker, ein Cowboy, wurde ihm von der Yakuza sein Zugang zum Cyberspace aus dem Gehirn gebrannt. Sein Leben und das seiner Freundin, die er in die Untergrundszene des futuristischen Japans gezogen hat, scheint sich rasend schnell auf einer Straße Richtung Abgrund zu bewegen, als plötzlich Armitage und Molly in sein Leben treten. Armitage macht Case ein Angebot, das er nicht abschlagen kann. Er soll für ihn mehrere Hackeraufträge erledigen, im Gegenzug würde er sein Nervensystem wiederherstellen und damit seine Fähigkeit den Cyberspace zu betreten. Auf seiner folgenden Reise über die Welt muss Case erkennen, dass Armitage in Wahrheit eine Marionette der geheimnisvollen künstlichen Intelligenz Wintermute ist, und sein altes Leben in Chiba City verfolgt ihn bis zum Ende, an dem er erkennt, was Wintermute und Neuromancer tatsächlich sind.
Neuromancer ist kein Buch, dass sich durch tiefgründige Charaktere auszeichnet. Kaum eine Person entspricht nicht zu großen Teilen einfach einem beliebigen Stereotyp, und die Tendenz Gibsons, in seinen Büchern manche Dinge einfach von sich aus mehr oder weniger in Wohlgefallen auflösen zu lassen, wirkt hier besonders an einer Stelle gegen Ende ein wenig irritierend. Es ist mehr das Szenario, die Beschreibung der Welt und die Konstellation der beiden großen Antagonisten ‚Wintermute‘ und ‚Neuromancer‘ wie auch deren Identität, die den Leser fesseln. Man spürt zwischen den Zeilen wie die Welt aussieht, die sich vor einem ausbreitet, wie die Lebenswirklichkeit an diesem Ort aussieht, und man kann darüber spekulieren, was Gibson wohl in Wahrheit mit seinem Buch sagen wollte – oder ob er damit überhaupt etwas hintergründiges ausdrücken wollte. Der Cyberspace, der den heutigen Internetusern an manchen Stellen vielleicht unwillkürlich bekannt vorkommt, ist eine bunte, pulsierende, groteske Welt und gemeinsam mit ‚Tron‘ wahrscheinlich die Blaupause für die Darstellung digitaler Welten. Gibson hat sehr früh erkannt, welche Möglichkeiten sich durch die damals noch sehr primitive Computertechnologie eröffnen würden, und wie die globale Vernetzung das Leben der Menschen bis zu ihren Grundfesten beeinflussen würde – und das zu einer Zeit, in der Handys, PCs, Internet, Twitter, Youtube und Google noch nicht mal auf dem Zeichenbrett eines verrückten Wissenschaftlers standen. Von daher kann man ihm auch verzeihen, dass er das baldige Ende des Ostblocks oder der gewaltigen japanischen Wirtschaftskraft nicht hat kommen sehen, ein Faktum, über das sich Gibson laut Interviews selbst sehr ärgert.
Gibsons Schreibstil ist herausfordern aber schön und lädt ein immer weiter zu lesen statt das Buch in eine Ecke zu werfen. Man hat beim Lesen von Gibsons Büchern das Gefühl, als würde er davon ausgehen, dass der Leser schon weiß, wie die Welt aussieht, in die er da eintaucht – er hat es gerade nur zwischenzeitlich vergessen. Nach und nach während dem Lesen gibt Gibson der Welt die er beschreibt Struktur, beschreibt ihre Form und ihr Äußeres wie selbstverständliche Nebensächlichkeiten, über die man eigentlich Bescheid weiß. Interessanterweise geht diese Taktik auf. Ist man anfänglich noch etwas verwirrt von den Dingen, die da in geschriebener Form aus dem Buch über die Pupillen in das eigene Gehirn fliegen, formt sich nach und nach ein Bild der Geschehnisse im Kopf des Lesers, das vielen Dingen nachträglich eine vorstellbare, interpretierbare Gestalt gibt.
Fazit:
Es lässt sich sagen, dass Neuromancer auf jeden Fall einen Kauf wert ist. Nachdem man sich ein wenig auf seinen Gibsons Stil, der mir schon aus ‚Mustererkennung‘ bekannt war, eingelassen hat, wird man von dieser futuristischen düsteren Welt in den Bann gezogen, deren Datenströme aus einer Zeit stammen als das Internet noch völlig unbekannt war aber trotzdem verblüffende Ähnlichkeit zu heute aufweisen – auch wenn der Cyberspace ungleich abstrakter ist und sich anders darstellt als das Internet. Meine Empfehlung lautet: Kaufen und ein Stück Sciene-Fiction genießen, dessen Zukunftsversion zum Teil bereits wahr geworden ist.
Autor: Zitrusfrucht