Letzte Entscheidung
Geld und Ruhm waren für viele die einzigen Gründe, an den Kämpfen teilzunehmen. Wer sich einen gewissen Ruf erarbeiten konnte, wurde vielleicht von den hiesigen Größen der Stadt bemerkt und würde möglicherweise bald in seiner Gunst stehen. Man hätte Deckel und Dirnen im Überfluss, könnte mit seinem Titel prahlen und würde auf der Straße mit „Sir“ angesprochen werden, egal wie unbedeutend man vorher auch gewesen sein mochte. Ihn interessierte das alles nicht. Für ihn war der anstehende Kampf etwas Persönliches.
Ivan schöpfte mit beiden Händen etwas Wasser aus dem Eimer und schüttete es sich ins Gesicht. Während er den nassen Kopf unten hielt, starrte er auf den schmutzigen Boden und dachte nach. Noch vor wenigen Monaten war er ein Nichts. Ein dreckiges zugedrogtes Stück Scheiße, die das Glück hatte einen anständigen Bruder gehabt zu haben. Ein versiffter Penner, ein armseliges Weichei war er damals. Gott sei Dank hatte er aus ihm etwas gemacht. Er ist kein unbeschriebenes Blatt mehr. Er hatte sich Muskeln antrainiert und gelernt, sie einzusetzen. Er versäumte keinen Kampf, um die Moves potenzieller Gegner vorab kennen zu lernen und sich darauf einzustellen. Aber selbst das würde ihm heute nicht sonderlich viel nützen. Schnaubend atmete er aus der Nase aus und ignorierte den Gestank von Schweiß und Blut im Umkleideraum. Im Ring würde es noch bedeutend schlimmer werden, dass wusste er. Er hasste den Geruch seines eigenen Blutes. Ivan schüttelte sich, als ein kühler Tropfen seinen Nacken herabrann. Flüchtig fuhr er sich über sein Gesicht und strich sich über seinen Bürstenhaarschnitt.
Draußen war bereits das Johlen der Menge zu hören. Unberührt zog er nacheinander seine fingerlosen Handschuhe an und wartete auf das lederne Knarzen, als er sie festzog. Militärstiefel, Kampfweste, Barett, Tarnhosen…sein Kostüm wirkte gewöhnungsbedürftig, aber er hatte sich bewusst für diese Kleidung entschieden. Sie dämpften die Schläge und Tritte ein wenig und beim Publikum kam er als „Ivan“ ohnehin gut an. Selbst wenn er kaum Wert auf einen zukünftigen Gönner legte; es konnte schließlich auch nicht schaden, aus der Menge hervorzustechen.
Vor den Umkleideräumen war die Hölle los. Der Ring bestand aus einem großen Drahtkäfig, der in der Mitte platziert von allen Seiten zu betrachten war. Vorne stand die einfache Bevölkerung und verlangte nach Blut, auf erhöhten Plätzen weiter hinten jedoch saßen sittsam Renos bedeutende Größen und wetteten horrende Summen auf ihre Lieblingskämpfer. Der Ansager, ein untersetzter Mann mit Seitenscheitel und elegantem Schnauzer trug zur anstehenden Show einen Smoking und begrüßte über ein Mikrophon das Publikum in einer derartigen Lautstärke, dass dem Russen im Backstagebereich kein Wort entging.
„Guten Abend und herzlich willkommen, werte Ladys and Gentleman!“ Rief er mit geradezu körperlich spürbarer Begeisterung in sein Mikrophon und die Masse brauste wie auf ein Stichwort hin auf. Mit einem geduldigen Lächeln wartete der feine Herr, bis sich die Zuschauer wieder beruhigt haben.
„Epische Duelle wurden auf diesem Boden voller Blut, Schweiß und Tränen ausgetragen. Auch heute durften wir einige der besten Kämpfer Renos erleben und bei den spannenden Kämpfen mitfiebern, in denen wirklich jeder sein Bestes gegeben hat und manch einer über sich selbst hinausgewachsen ist. Andere hatten weniger Glück und dürfen den Ausgang dieses einzigartigen Turniers leider nicht mehr miterleben. Aber halten wir uns nicht mit langen Gebeten auf, denn dafür sind Sie schließlich nicht hergekommen! Die Creme de la Creme haben wir uns bis zum Ende für Sie aufgehoben. Das Beste kommt eben immer zum Schluss!“
Endlich öffnete sich die Tür und ein bulliger Sicherheitsmann streckte seinen Kopf hinein. „Hey, du bist dran! “ „Alles klar.“ Der Russe erhob sich schwerfällig und trat hinaus. Ein tosend lauter Begeisterungssturm fuhr durch die Menge, als der Kämpfer vorgestellt wurde und angespannt zwischen die Absperrung auf den Ring zuging. „Ivan, meine sehr verehrten Damen und Herren! 23 Siege und nur zwei Niederlagen sprechen für sich!“ Versuchte sich der Ansager mühsam wieder Gehör zu verschaffen. „Ein wahrer Experte wenn es darum geht, seine Feinde hart und unerbitterlich auszuschalten!“ Ivan achtete nicht auf das Geschrei der Zuschauer und ignorierte auch die anzüglichen Blicke der Mädchen, die den Familienoberhäuptern Gesellschaft leisteten. Stattdessen bereitete er sich darauf vor, Auge in Auge vor seinem letzten Gegner zu stehen. Den wahren Gegner in diesem Tunier, derjenige, weswegen er sich überhaupt angemeldet hatte.
„Und hier der Mann, auf den Sie alle gewartet haben! Einer der besten Schüler des ehewürdigen Drachen! Ein Meister der shinesischen Kampfkunst! Sein sagenhaftes Können hat sogar dem unvergleichlichen Rock Tarassow ein würdiges Ende in unserem letzten Tunier bereitet. Heute werden wir sehen, ob sein jüngerer Bruder mehr Erfolg hat!“ Ivan zuckte leicht zusammen, als sein Bruder erwähnt wurde. Ansonsten ließ er sich jedoch nichts anmerken und schaltete alles um sich herum aus. Nur noch sein eigenes gleichmäßiges Atmen und das laute Pochen in seinem Herzen nahmen seine Ohren war, während seine Augen auf den näher kommenden Kämpfer gerichtet waren. „Joooohn Lee, meine Damen und Herren!“ Brüllte der Anzugträger mit gerötetem Gesicht ins Mikrophon und wurde nur noch vom Jubeln der blutgierigen Gäste übertönt.
In den Ring stieg ein durchtrainierter Mann, etwas älter als er selbst und weniger muskulös. Er trug einen Pferdeschwanz und am Gesicht hatte er sich einen Mongolenbart gezüchtet. Seine Kleidung beschränkte sich auf ein Unterhemd und eine grobe Arbeiterhose. Selbstbewusst begann er mitten im Ring mit letzten Aufwärmübungen und würdigte seinen Herausforderer zunächst keines Blickes.
„Wer aufgibt, tot oder bewusstlos ist, ist draußen!“ Fuhr der Ansager fort und verließ die „Todeszelle“. Geräuschvoll schloss sich hinter ihm das Gittertor. „Wir verzichten auf unnötige Regeln. Es gibt nur eine und die kennen Sie alle!“
„Zwei gehen rein! Einer geht raus! Der andere wird weichgeklopft und fliegt ins Krankenhaus!“ Gröhlte die Menge in einstimmiger Begeisterung. Nur die Familien und ihr Gefolge im Hintergrund hielten sich dezent zurück und verfolgten das Geschehen von ihren Plätzen aus aufmerksam.
Ivan ließ seine Halswirbel knacken und musterte seinen Gegner feindselig. „Du wirst heute sterben, Penner!“ Stieß er ihm ins Gesicht und hob kampfbereit die Fäuste. Der Fake-Shi lächelte nur spöttisch und war ebenfalls bereit. Der Kampf wurde mit einem lauten Gong für eröffnet erklärt.
Lauernd kreiste Ivan um seinen Widersacher und ließ seine Fäuste immer wieder mit der Schnelligkeit und Angriffslust einer Viper zuschlagen. Der Andere beschränkte sich darauf, ihm auszuweichen. Einer seiner Schläge wurde abgefangen und der Russe ging in Erwartung eines Gegenschlages einen eiligen Schritt zurück. Nichts geschah. Mitleidig musterte der Kampfsportler seinen Gegenüber und schüttelte den Kopf, als wäre er enttäuscht.
Wütend stürzte er sich mit der Schulter voran auf ihn zu und wollte ihn einfach über den Haufen rennen, doch sein Gegner ließ ihn ins Leere gegen den Gitterzaun laufen. Scheppernd rannte er gegen das Ende des Rings und drehte sich wieder um. Lee sah unbeteiligt woanders hin, nur nicht in seine Richtung.
So von dir selbst überzeugt, eh? Dachte er und wagte erneut einen schnellen Angriff. Sein Schlag verfehlte. Schemenhaft sah er etwas von unten auf sich zukommen. Bevor er reagieren konnte, erwischte ihn ein blitzartig ausgeführter Tritt gegen das Kinn und ließ ihn schmerzerfüllt nach hinten taumeln. Herausfordernd blickte er den muskulösen Russen an. Es lag keine Feindseligkeit in seinem Blick. Für ihn ist er Hindernis wie jedes andere auch. Eines, das bald weggeräumt würde. So wie sein Bruder, der ihm anschließend die Mordinos Gunst einbrachte. Mit einem dröhnenden Kampfschrei setzte sich Ivan in Bewegung und täuschte an. Sein Gegner hatte den Fehler gemacht, ihn für einen tumben Schläger ohne jeden Sinn für Taktik einzuschätzen. Seine Linke bohrte sich mit der Kraft eines Vorschlaghammers in seine aufgebaute Defensive und trieb ihn zurück. Das Publikum jubelte und schrie vor Begeisterung. Lee ließ seine getroffenen Arme kraftlos vor sich hinbaumeln.
„Das gibt sicher blaue Flecken.“ Kommentierte er zynisch seinen Treffer und schüttelte seine Arme mit leicht verengten Augen. Mit dem provozierten Angriff konnte er sich nun ein genaueres Bild von seinem Gegner machen. Näher kommen ließ er ihn lieber nicht, also verlegte er seine Kampfweise auf Distanz. Bevor er die Gelegenheit für einen weiteren Angriff hatte, trat Lee dem überraschten Russen harmlos gegen die Brust und ließ ihn innehalten. Den Gesetzen der Schwerkraft trotzend wirbelte er in der Luft herum und schoss mit dem Fuß gegen seinen Kopf.
Die Zuschauer hielten den Atem an. Manche standen mit offenen Mündern da und fragten sich, ob der falsche Shi tatsächlich die Fähigkeit besaß, durch die Lüfte zu fliegen. Schwer getroffen stolperte der Kämpfer einige Schritte zurück und hielt sich sein Ohr. Seine linke Seite brannte wie Feuer. Ivan hatte wieder die Schnelligkeit seines Gegners unterschätzt und sich auf den einen gelungenen Treffer gegen seine mittelmäßige Deckung zu viel eingebildet. Adrenalin pumpte durch sein kochendes Blut und der Geruch von Schweiß wurde aufdringlicher. Schwer atmend versuchte er einen schnellen Schlag abzufangen, der jedoch harmlos an seiner Seite verpuffte. Hektisch stemmte er anschließend ein Bein nach hinten und hielt gegen einen Lowkick stand, der ihn aus dem Gleichgewicht bringen sollte. Für seinen darauffolgenden Angriff war er aber nicht mehr vorbereitet. Sein Magen krümmte sich unter dem überraschend harten Schlag zusammen. Hustend beugte er sich vor und erhielt darauf einen pfeilschnellen Stoß gegen den Kopf. Verspätet riss er seine Deckung hoch und verspürte eine Sekunde später einen brennenden Schmerz an seinem Schienbein. Wie musste sich sein Bruder gefühlt haben, als er diesem Gegner gegenüberstand?
Er ist so schnell…War ein träger Gedanke, der ihm durch den Verstand sickerte. Sobald er zu einem Angriff ansetzen wollte, hielt ihn sich der andere mit gutplatzierten Tritten vom Leib und setzte erst dann nach, wenn er nach Atem rang. Schnell und effektiv prasselten seine Angriffe auf den bedrängten Russen ein. Er konnte einiges wegzustecken, aber er wusste, lange würde er nicht mehr durchhalten. Sein Blick wurde unsicher. Die wogenden Zuschauermassen verschwommen vor seinen Augen mit dem Licht der Decke. Unnachgiebig und wie in Zeitlupe drückte sich eine fremde Faust gegen seine Wange und warf seinen Kopf zur Seite. Auf seiner Zunge schmeckte er Metall. Ivan musterte den unverletzt aussehenden Kampfsportler benommen, als dieser zurückwich und ihn seinerseits jetzt umkreiste. Geräuschvoll spuckte er ein Blutspeichelgemisch auf den Ringboden. Um ihn herum drehte sich noch immer alles. Ein weiterer Gedanke tropfte zäh durch sein Gehirn, nachdem er den letzten Faustschlag geschmeckt hatte. Vielleicht ein Ausweg…
Hoffnungsvoll bezog er seine ursprüngliche Kampfhaltung ein. Er konnte das Erstaunen seines Gegenübers in seinem Gesicht lesen. Langsam ging er auf den anderen zu. Lee wich zunächst behutsam zurück, bis er plötzlich das Gitter in seinem Rücken spürte. Angespannt wich er einem halbherzig ausgeführten Schwinger aus und trat ihm gegen den linken Oberschenkel. Sein Schienbein drängte den schwerfälligen Klotz zur Seite, sein sicherer Stand löste sich auf…“Loslassen!“ Rief er angesäuert, als der Andere sein Fußgelenk mit nur einer Hand wie in einem Schraubstock festhielt. Auf einem Bein hüpfend versuchte er ihm ins Gesicht zu schlagen. Dieser sah den Angriff kommen und ohne zu Zögern erwiderte er den Schlag. Als beide Fäuste krachend aufeinander trafen, wurde das Gesicht des falschen Shis blass. Für einen Moment war es still zwischen den beiden und das Publikum vergessen. Wie eine Puppe schleuderte der Russe den anderen grob zu Boden. Mit seiner zertrümmerten Hand konnte er nicht rechtzeitig zurück auf die Beine kommen. Ein brachialer Tritt in den Rücken schickte ihn zurück auf die Bretter, nachdem er halb aufgestanden war. Aus der Lunge des Kampfsportlers entwich alle Luft. Ohne sich um die ausgelassene Menge zu kümmern setzte sich der Russe mit all seinem Gewicht auf seinen Kontrahenten und legte die behandschuhten Hände um seinen Hals. Kurz glitt sein Blick zu Mordino. Dieser nickte mit einem amüsierten Grinsen und fächelte sich weiter Luft zu. Ivan erwiderte das Nicken zufrieden und wendete sich wieder John Lee zu. Der Mann hatte ohne die Wimper zu zucken seinen Bruder genommen. Und um ein Haar hätte es ihn wohl auch erwischt. Nach einem brutalen Schlag gegen den Kopf lag der Andere von Schmerzen überwältigt nahezu reglos auf dem harten Ringboden. Der Russe packte ihn grob an den Haaren und zwang ihn wieder auf die Beine. „Weißt du noch, was du zu meinem Bruder gesagt hast? Bevor du ihn fertig gemacht hast?“ Er legte hinterrücks einen muskulösen Arm um seinen zerbrechlichen Hals und legte eine Hand auf seinen Hinterkopf. „Ein Wanderer steigt mühsam über einen Felsen hinweg oder nimmt einen Umweg im Kauf. Ein Kämpfer dagegen schlägt diesen Stein in Stücke und geht den direkten Weg. Oder so ähnlich.“
Leblos glitt der Mörder seines Bruders zu Boden. Die Menge tobte und feierte ihren Helden, der es geschafft hatte, ihnen ein spannendes Finale zu ermöglichen und den Tuniersieg für sich zu behaupten.