Autor Thema: Das Wasser des Todes  (Gelesen 5896 mal)

Offline Pershing

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Das Wasser des Todes
« am: 17. September 2009, 16:07:02 Uhr »
Menschen sind einfach Idioten.
Sie mögen sich für intelligent erachten, soviel sie wollen.
Unter dem Strich bleiben 99,8 % absolute Weichbirnen.
Den Aufwand nicht wert, etwas zu ihrem Besten in Angriff zu nehmen.
In Momenten wie diesen war ihr jene simple Erkenntnis wieder zum Greifen nah.

Die Sonne begann sich langsam aus dem hochhängenden Nebel zu lösen, erste, zartwarme Strahlen zur ausgebrannten Erde herabzusenden. So betrachtet konnte selbst das Ödland ein wunderschöner Ort sein. Eingetaucht in diesen hellroten Schleier, den der frühe Morgen wie ein Geschenk über die Szenerie hüllte.
Irgendwo brüllte ein Radiogerät noch immer GNR vor sich hin.
Der Lauf ihrer Maschinenpistole rauchte aus Mündung und Patronenauswurf.
Die sanften Wellen des Potomac-River glitzerten in diesem ersten Tageslicht.
Sie atmete ein.
Sie atmete aus.
Dann ließ ihre verschwitzte Hand den Griff der Waffe los, um die Sonnenbrille hochzuschieben, sodaß die spiegelnden Gläser zwei weitere Augen auf ihre Stirn simulierten.
So konnte sie die Sache schon etwas klarer sehen.

Die verdammten Brahmins waren die Ersten gewesen.
Noch bevor sie die Waffe hätte ziehen können, lagen die Scheißviecher schon tot im Schotter des ausgetrampelten Pfades.
Aber was war dann geschehen?
Sie hatte sich zu Boden geworfen. Im Liegendanschlag bot man ein wesentlich schlechteres Ziel.
Das zischende Vorbeipfeiffen der Kugeln hallte immer noch in ihrem Kopf nach.
Dann das heisere Bellen der Sturmgewehre. Die spritzenden Blutfontänen.
Und diese grauenhaften Schmerzensschreie.

Den Patronenhülsen ringsum war zu entnehmen, daß mehrere hundert Schüsse gefallen sein mußten.
Es war so schnell geschehen.
So rasch wieder vorbei gewesen.
War es tatsächlich schon vorbei?
Automatisch reagierte ihre linke Hand dann auf die gähnend offenstehende Verschlußmechanik der MP.
Zack, Klack ... ein neues Magazin, ein weiteres Durchrepetieren ... sie war wieder feuerbereit.
Vorsichtshalber!

War ihr Vater dafür gestorben?
Hatte er deswegen ins Gras gebissen, damit ein paar Irre da draußen einen neuen Grund hatten, sich gegenseitig umzubringen?

Sieben Tote lagen rings um sie verstreut.
Die beiden Karawanenwachen. Vier unbekannte Angreifer. Und dieser Ödländer, der einfach nur im falschen Moment an der schlechtesten Stelle gesessen hatte.
Und die beiden toten Brahmins ... natürlich.
Sie war das einzige Stück Leben, das jetzt noch aufrecht stand.

Schon bei der Anheuerung in Rivet City war ihr erklärt worden, daß die Wasserkarawanen ständig überfallen wurden.
Daß die Angreifer organisiert vorgingen, sie mehr als ein Viertel der Brahmin-Konvois aus dem Verkehr gezogen hatten.
Aber das hier ... keine 500 Meter vom Ausgangspunkt entfernt!?
Sie sollte die Truppe nach Canterbury Commons begleiten. Hatte sich auf zähe Kämpfe draußen in der offenen Wüste eingestellt.
Damit gerechnet, daß in den zerklüfteten Felsformationen des Ödlandes böse Hinterhalte auf sie lauern würden.
Dummerweise würde sie nie erfahren, ob dem tatsächlich so gewesen wäre.
Die vier Wichser in ihren Metallrüstungen hatten ihr Angriffsziel schon mitten zwischen den Hochhausruinen zusammengeschossen wie Maulwurfsratten.
"Verdammte Scheiße!" murmelte sie. Immer noch in völliger Auflösung.
Nicht ganz Herr der eigenen Sinne.
Dafür also war ihr Vater in dieser strahlenverseuchten Kammer verreckt.
Und sie selbst auch beinahe.
Und überhaupt!
Diese verdammten Vollidioten!

Draußen in Springvale hatte sie vorgestern diese Geisteskranken von der Atomverehrer-Sekte ausgeknipst.
Dabei hatte sie gar nicht vorgehabt, gewalttätig zu werden.
Aber auch das war so schnell gegangen.
Die brodelnde Wut, die in ihr aufgestiegen war in diesem Augenblick, hatte sich irgendwie ... verselbständigt.
Spätestens als sie begriffen hatte, daß diese Hirnamputierten das Aqua Pura wieder verstrahlten, um es dann "Weihwasser" zu nennen, war es um ihre Selbstbeherrschung geschehen.
Mit diesem verklärten Blick der Er-Irrleuchteten hatte ihr der Typ am Tor des Klosters erklärt, daß sein Verein den Menschen etwas Gutes tun würde. Und sie herzlich willkommen wäre.
Sie hatte sich bereits abgewandt gehabt.
War bereit, einfach wieder zu gehen.
Aber er mußte ihr dann unbedingt nochmals versichern, wie wichtig seine Mission wäre.
Auch dann war alles wieder sehr schnell gegangen.
Erst die zwei oder drei Burst-Salven aus dem Lauf des M4. Dann das Aufreißen der Falltür am Boden, drei Phosphorgranaten ... und dann hatte sie sich auf die hölzerne Klappe gestellt.
Um das verzweifelte Rütteln der darunter Eingeschlossenen ins Leere laufen zu lassen.
Bis sie irgendwann aufgehört hatten, zu rütteln.

Sie hatte sich jetzt wieder weit genug gesammelt, um die Toten ringsum etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.
Auffällig war die Bewaffnung der Angreifer.
Sie trugen das typische Arsenal der Talon-Company bei sich.
Auch wenn sie andere Rüstungen anhatten ... die Bewaffnung war hochgradig verdächtig.
Ein paar Kronkorken, Munition, zwei Stimpacks ... und dann war da noch dieses Tape.
Sie zog das Band aus der Hülle und fütterte es ihrem PipBoy, um zu hören, was da gesprochen werden würde.

Nach dem völligen Auslöschen dieser Sekte war sie an jenem vorgestrigen Tag nach Megaton zurückgekehrt.
Hohl irgendwie, ... innerlich. Und stumpf.
Enttäuscht auch.
Von den Menschen angewidert.
Eigentlich wollte sie sich bei Moriarty oben vollaufen lassen, ein paar nette Worte mit Gob wechseln und sich dann in irgendeinem Bett den Frust aus der Seele schlafen.
Aber dann ... dann war es zum zweiten Mal an diesem verdammten Tag geschehen.
Genau vor dem Tor.
Als sie dort angekommen war, begann der Streit gerade zu eskalieren.
Vier oder fünf Megaton-Siedler eckten mit den Kameraden aus der Bruderschaft an.
Weil sie mehr Wasser haben wollten.
Die Karawane nicht weiter nach Big Town ziehen ließen.
Schon als sie zu verstehen begann, was sich da entwickelte, war das Sturmgewehr wieder im Anschlag.
Und wo sie gerade so in Laune war - wegen der Sektengeschichte vorhin - wartete sie die weitere Entwicklung gar nicht erst ab.
Es war ohnehin klar, wo das hinführen würde.
Als nur noch sie und die beiden Jungs der Stählernen aufrecht standen, zog sie ihre Holomarke unter der Rüstung hervor, um sie den Brüdern zu zeigen. Erleichtert ließen sie daraufhin ihre Laserwaffen wieder sinken.
Bedankten sich sogar für die Hilfe.
Gern geschehen!
Man legt doch mit Vergnügen immer wieder ein paar Leute um, die zu blöd sind, um sich für Geschenke dankbar zu zeigen.

Das Band war durchgelaufen.
Bei Oma Sparkle also.
Im "Strandcafe", wie sie es für sich selbst getauft hatte.
Und das Codewort sollte "Mirelurk-Eintopf" lauten. Oder so ähnlich.
Aber dazu würde es wahrscheinlich gar nicht kommen.
Vermutlich würde wieder alles ziemlich schnell gehen.
Sobald sie dort wäre, würde sie schon eine allseits befriedigende Lösung der Causa finden.

Vorgestern war auch Sheriff Simms hart an der Kante entlanggewandert.
Nachdem sie - zwei Ballereien in den Knochen und geschätzte weitere zehn Leben auf dem Gewissen - durch das Tor geschritten war, zog er seine Waffe. Sein leises Gespür für brisante Symbolik ließ ihn dann aber den Schulteranschlag doch nicht in Erwägung ziehen.
Britsh Ready schien ihm auch zu reichen.
"Was war das eben da draußen für eine Scheißaktion?" fragte er.
Aber sie sah ihn nur giftig an.
"Ich hab heute schon zwei Fehler gemacht, Sheriff. Einen Dritten wollen wir beide nicht, oder!?" gab sie zur Antwort.
Er atmete ein.
Er atmete aus.
Dann steckte er die Knarre wieder weg.
Sie nicht.
Vorsichtshalber!

Sie konnte schon von Weitem die Gestalten sitzen sehen.
Noch während sie die Brücke vom Anchorage Memorial nach Westen überschritt, durchdachte sie die Aktion.
Zwei Pistolen.
Für jede Hand eine.
Vier Leute, das wären acht Schüsse.
Wenn alles klappte.
Wenn nicht ... dann würden es wahrscheinlich wieder ein paar hundert.
Oder doch lieber Schrot?
Nein!
Gegen die Metallrüstungen nicht wirksam genug.
So gesehen wäre Stahlmantel besser.
Also doch das M4.
Klackend hallte das Repetieren vom Asphalt wider.

In Underworld war ihr schon wieder der Finger am Abzug durchgegangen.
Das war gestern gewesen.
Wenn das nicht aufhörte, würde sie noch zur Amokläuferin werden.
Sie hatte den seltsamen Ghul-Typen mit der Perücke schon vom Eingang weg ins Visier genommen.
Mit angelegter Waffe war sie dann an Mani, dem Mammut vorbei auf ihn zugeschritten.
"Hey!"
Er zuckte zusammen vor Schreck.
"Was wird das hier für eine abgefahrene Scheiße?"
Das fantastische Aqua Cura? Wieso redete sie überhaupt noch mit dem Kerl?
"Aber Madame ..."
"Ich hab' Dich was gefragt, Arschloch!"
In diesem Moment schien ihm langsam zu dämmern, daß dies nicht sein Tag werden würde.
Sie war inzwischen bei ihm angekommen. Die Pistole zielte exakt in die Mitte seiner Stirn.
Er stand nur da und brachte sein gerade noch so lockeres Maul nicht mehr auf.
"Weißt Du, wer ich bin?" fragte sie ihn dann.

"Hey Du!"
Der Typ, der da großspurig auf dem Sessel bei Oma Sparkle hockte, war der geborene Wichtigtuer.
Niemand der ansonsten Anwesenden sah nach Bandenführer aus.
Also würde sie einfach dem da gleich mal die Lampen ausknipsen. Der Rest würde sich dann schon ergeben.
Ziemlich schnell vermutlich sogar.
"Und wer verdammt nochmal bist Du?" wollte er von ihr wissen.
"Wer ich bin?"
"Ja, Herrgott nochmal. Bist Du taub oder einfach nur bekloppt?"
"Weder noch." sagte sie. "Machen wir es kurz ... Irgendwelche letzten Wünsche?"
Er starrte sie in diesem Moment ziemlich verstört an, dachte sie noch.
Aber wenn man genau hinhörte, konnte man die Zahnräder in seinem Kopf noch einen Augenblick lang rattern hören.
"Dann eben nicht!" sagte sie. Nach zwei Sekunden Wartezeit.
Und danach ging wieder alles furchtbar schnell.

"Weißt Du was?" hatte sie dem Ghul-Typen in Underworld erklärt. "Es wäre Zeitverschwendung, Dir zu erzählen, wen Du vor Dir hast. Weißt Du warum?"
Nach einem kurzen Moment das Zögerns wirkte seine nächste Bewegung wie ein angedeutetes Kopfschütteln.
"Weil Du ja doch niemandem mehr davon erzählen könntest. Darum!"
Und dann ging alles ziemlich zackig.
Danach ... als der Typ ... oder ... was von ihm noch übrig war, am Boden lag ... seine dämliche Perücke drei Meter weiter ... danach atmete sie ein.
Und wieder aus.

Oma Sparkle hätte einfach sitzen bleiben sollen.
Geschossen wurde in Kopfhöhe. Die Kugeln wären einfach über sie hinweggezogen. Wenn sie sitzengeblieben wäre.
Aber sie mußte leider unbedingt aufstehen.
Wenigstens war sie schon alt gewesen.
Insofern hatte sie wahrscheinlich nicht mehr allzu viel versäumt.
Schnell war es gegangen.
Wie immer!
Sie atmete ein.
Dafür also war ihr Vater in dieser strahlenverseuchten Kammer gestorben.
Für die Idee, das Wasser des Lebens zu verschenken.
Wäre kein schlechter Plan gewesen.
Wenn die Menschen nicht zu 99,8 % komplette Vollidioten wären.
Diesen Faktor hatte Daddy leider nicht in seiner Kalkulation berücksichtigt.
Sie atmete aus.
So viele Leben in so kurzer Zeit beendet hatte sie noch nie seit ihrem Ausbruch aus der Vault.
Aber seit das reine Wasser des Todes aus den Rohren am Tide-Becken floss, war alles ein klein wenig komplizierter geworden.
Allerdings nicht so kompliziert, daß man es nicht mit ein paar gut gezielten Schüssen regeln konnte.

Der Nebel hatte sich inzwischen fast vollständig aufgelöst.
Sie würde jetzt nach Rivet City zurückmarschieren, um dort klarzustellen, daß wohl eine neue Karawane für Canterbury Commons notwendig wäre.
War auf jeden Fall ein schöner Tag heute.
Silbern glitzernd wälzte sich der Potomac nach Süden.
Sogar die Vögel am Himmel schienen sich zu freuen über diesen herrlichen Morgen.
Die Sonne wärmte ihre Haut ganz vorsichtig. Ungewöhnlich für diese frühe Stunde.
Sie atmete ein.
Dann atmete sie aus.
Bevor sie ging, warf sie noch einen letzten Blick auf die fünf Toten ringsum.
Das "Wasser des Lebens" also.

So konnte man sich täuschen...
« Letzte Änderung: 17. September 2009, 16:36:48 Uhr von Pershing »
Ich denke. Also bin ich DAGEGEN.