Als Jay das Zimmer verlässt, wartet Jade noch eine gefühlte Minute und sammelt sich. Erste kleine Tränen kullern stumm ihre Wangen hinab, aber sie beschließt, jetzt hart zu sein, denn sie weiß nicht, wie viel Zeit ihr alleine bleibt und einen Abschied von Angesicht zu Angesicht würde sich nicht über’s Herz bekommen. Dennoch... Trotz aller Eile kann sie nicht einfach so verschwinden, das hat Jay nicht verdient.
<Und das, was du hier tust, hat er erst recht nicht verdient! … Aber ich muss gehen. Wenn das meine einzige Chance auf die Wahrheit ist, dann muss ich es tun!>
Jade kramt Notizblock plus Stift aus ihrem Rucksack und setzt sich auf's Bett. <Vergib mir Jay…>
Mit ihrer geschwungenen Handschrift beginnt sie zu schreiben.
__________
Liebster Jay,
wenn du das hier liest, bin ich fort. Ich habe Frisco verlassen und mich auf den Weg an einen Ort gemacht, den ich dir nicht nennen kann. Ich darf nicht hoffen, dass du mich verstehst oder mir verzeihst, aber ich konnte nicht anders. Die ganze Nacht habe ich wach gelegen und darüber nachgedacht... Ich habe dir von meiner Vergangenheit erzählt, von meinem Vater und dem, was ihm widerfahren ist. Gestern Nacht, als du geschlafen hast, hat mir ein Hotelangestellter ein Paket gebracht. Der Absender gab sich nicht zu erkennen, aber wer auch immer er ist, er kennt ebenfalls meine Vergangenheit. Das Päckchen enthielt Hinweise auf die Mörder meines Vaters. Hinweise, die ich nicht in der Lage bin zu ignorieren.
Es reißt mir ein Loch in die Brust, aber ich kann damit nicht warten. Bitte vergib mir, dass du es auf diesem Weg erfahren musst, aber ich hätte es nicht über’s Herz gebracht, dir selbst davon zu erzählen. Hättest du vor mir gestanden, ich hätte es nicht über mich gebracht zu gehen, verstehst du!? Aber ich muss gehen! Vielleicht wärst du mit mir gegangen, aber diese Bürde darf ich dir nicht auftragen. Die anderen brauchen dich hier. Sie brauchen jede fähige Hand und es reicht, wenn sie eine Person im Stich lässt.
Es tut mir leid, dass ich so viele Vorsätze und Versprechungen breche. Ich wünschte, ich könnte bei dir sein - für immer. Ich will, dass du weißt, dass ich dich liebe und dich immer lieben werde, egal was passiert. Wie auch immer die Sache ausgeht und wie wir dann vielleicht zueinander stehen, ich hoffe, wir werden uns eines Tages wiedersehen. Ich hätte so gerne meine Vergangenheit begraben und mit dir gemeinsam ein neues Leben angefangen, aber etwas in mir drin gibt keine Ruhe. Vielleicht wenn ich endlich meine Rache habe... Vielleicht kann es dann einen neuen Anfang geben.
Bitte sag Jeff, dass es mir leid tut. Ich habe ihm versprochen ihm beizustehen, wenn er sich auf die Suche nach den Mördern seiner Eltern macht. Ich glaube nicht, dass es jetzt jemals dazu kommen wird.
Bitte sag Sakaya, dass ich sie geliebt habe wie eine Schwester. Trotz alledem was nun zwischen uns steht und auch wenn ich manchmal schlecht von ihr gedacht habe, wünsche ich mir, dass sie glücklich wird. Bitte sag ihr das und gib auf sie acht, solange ihr in Frisco seid.
Bitte sag Saint und den anderen, dass ich ihnen Glück wünsche. Ich bin froh sie getroffen zu haben und ich weiß nicht was wäre, wenn dies nicht geschehen wäre.
Dir sage ich nicht lebe wohl, denn ich bete, dass wir uns eines Tages wiedersehen. Ich weiß nicht, ob dies wirklich geschehen kann, aber es hält mich aufrecht und gibt mir Kraft für die Dinge, die auf mich zukommen. Ich liebe dich, Jay. Ich liebe dich so sehr... Vergib mir.
Jade
__________
Jade zupft das Blatt aus dem Block und faltet es zusammen. Das Papier ist an einigen Stellen wellig, wo die nicht mehr zu unterdrückenden Tränen ihre Spuren hinterlassen haben. Schnell macht sie sich zum Aufbruch bereit. Trotz der durchgemachten Nacht ist sie weder müde noch kraftlos. Da ist nur diese Leere und ein dicker Klos in ihrem Hals.
Sie verlässt voll ausgerüstet ihr Zimmer und schließt hinter sich zu. Den zusammengefalteten Brief schnippt sie, zusammen mit dem Schlüssel ihres Zimmers, mit Schwung unter Jay's Zimmertür hindurch, da sie keinen Schlüssel für sein Zimmer hat. Dann macht sie sich heimlich und ungesehen davon. Bevor sie die Stadt verlässt, huscht sie noch über den Markt und tauscht große Teile ihrer Ausrüstung, die sie nicht unbedingt braucht, gegen Deckel und Vorräte ein, um für einen langen Trip gerüstet zu sein. Dann begibt sie sich zur Stadtgrenze, auf der Suche nach einem Caravan oder einer Gruppe Reisender, mit denen sie die Stadt schnell und sicher hinter sich lassen kann. Notfalls würde sie sich auch zu Fuß auf den Weg machen, bis sie auf einer der Handelsrouten jemandem begegnet.
So verlässt Jade Frisco und ihre Kameraden. Ihr Weg führt sie nach Den. Ob sie jemals dort ankommt, jemals ihre Rache vollenden kann oder jemals Jay und die anderen wiedersieht, steht vorerst in den Sternen...